Rechtsruck im Familien-Chat: Lieber Onkel, wir müssen über deine Whatsapp-Videos reden
Die politische Lage ist angespannter denn je. Auch durch Familien oder Freundesgruppen geht eine immer größere Spaltung. Wie sich das anfühlt, hat unsere Kollegin anonym in einem Brief an ihren Onkel aufgeschrieben
Die politische Lage ist angespannter denn je. Auch durch Familien oder Freundesgruppen geht eine immer größere Spaltung. Wie sich das anfühlt, hat unsere Kollegin anonym in einem Brief an ihren Onkel aufgeschrieben
Hey,
ich möchte dir nochmal sagen, wie schockiert ich gestern war, als du das Meme in unsere Familien-WhatsApp-Gruppe geschickt hast. Die „Tagesschau“ lief noch: Merz verbündet sich mit der in Teilen rechtsextremen AfD, um eine Antragsmehrheit für einen härteren Migrationskurs zu bekommen. Das hat meinem Mann und mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Und dir fiel in genau diesem Moment nichts Besseres ein, als ein frauenverachtendes Kurzvideo mit deiner Verwandtschaft zu teilen, in dem ein Mann seine Frau an den Haaren zerrt und zur Tür hinausschmeißt. Überschrift: „Wenn deine Frau die Grünen wählt …“ – was hast du dir bloß dabei gedacht?!
Ich weiß, dass du die Grünen hasst. Weil du deinen Verbrenner liebst, aber Habecks Heizungsgesetz überhaupt nicht. Dennoch verstehe ich nicht, warum du nicht lieber gegen die offensichtlich Bösen in unserem Land schießt. Gerade gestern, als dieser historische Tabubruch im Parlament begangen wurde, hätte ich mir von dir gewünscht, dass du in unserem geschützten Raum – der Familiengruppe – ein Zeichen sendest, dass du genauso entsetzt und traurig bist wie wir anderen. Und du hast ja auch sofort gemerkt, dass du dich mit deinem Grünen-Bashing in die Nesseln gesetzt hast – als wir alle zeitgleich sehr klar und sehr einstimmig kommuniziert haben, warum dieses Meme gar nicht geht.
Danach hast du zwar gesagt, dass du natürlich niemals die AfD wählen würdest, aber der Frust in der Mehrheit der Bevölkerung nun mal da sei. Stimmt. Trotzdem fand ich es mehr als unpassend, die aktuelle politische Lage mit einem misogynen Witz zu relativieren. Dabei ging es gestern gar nicht um die Grünen, sondern um die Entscheidung von CDU/CSU, durch die eine in Teilen rechtsextreme Partei praktisch „geadelt“ wurde: Ihr gehört jetzt richtig mit dazu.
Du regst dich über Gendersternchen auf oder darüber, dass du Schokoküsse nicht mehr nennen darfst wie früher, aber nur selten über Tino Chrupalla. Rassismus, Misogynie und Rechtsextremismus bekommen scheinbar weniger deine Aufmerksamkeit als Transpersonen oder Männer, die sich schminken.
Was ich dir nie erzählt habe: Ich habe mal auf einer Familienfeier heimlich auf der Toilette geweint, nachdem du dich abfällig über Geflüchtete geäußert hast. Es hat mich erschüttert, dass ein Mensch, den ich so sehr liebe, so unempathisch über vom Krieg gebeutelte Menschen in Not spricht. Noch dazu, weil es dir doch so gut geht! Obere Mittelschicht, Kleinstadtidylle, Karibikkreuzfahrt – wovor hast du eigentlich Angst?! Aschaffenburg hat uns alle entsetzt. Trotzdem brauchen wir doch konstruktive, nachhaltige Lösungen und ganz sicher nicht so einen irren Schnellschuss, wie CDU/CSU ihn gestern hingelegt haben.
Wir haben uns immer gut verstanden, haben zusammen gelacht, einander geholfen und unterstützt – du warst immer mein Lieblingsonkel. Aber jetzt wird es zunehmend schwer, die politische Kluft zwischen uns zu überbrücken. Mal ehrlich: Du hast zwei Töchter, eine Nichte – mich – und vier Enkelinnen. Die meisten wählen Grün und sind Feministinnen. Eigentlich müsstest auch du Feminist sein und mit uns zusammen zum Beispiel gegen den Gender-Pay-Gap wettern. Aber, nö, du arbeitest dich lieber an der Asylpolitik ab.
Lass uns gerne diskutieren – aber bitte sachlich, fair und ohne populistische Plattitüden. Nochmal: Die Brandmauer ist gestern gefallen. Eine noch größere Spaltung geht damit durch die Gesellschaft – und ich habe Angst, dass sie unsere Familie kaputt macht. Denn spätestens jetzt kann ich Dinge nicht mehr ignorieren.
In Liebe, deine Nichte