Lars Vollmer: Von Deepseek lernen? Was denn, bitte schön?
Die Entwicklungskosten für Deepseek waren extrem niedrig. Stimmt also die Schlussfolgerung, dass ein geringes Budget zu innovativeren Lösungen führt? Lars Vollmer erklärt, warum es diese Kausalität nicht gibt
Die Entwicklungskosten für Deepseek waren extrem niedrig. Stimmt also die Schlussfolgerung, dass ein geringes Budget zu innovativeren Lösungen führt? Lars Vollmer erklärt, warum es diese Kausalität nicht gibt
„Deepseek“ ist das Stichwort der Stunde. Das chinesische Start-up hat es geschafft, mit seinem Modell R1 die Techbranche samt Aktienmärkten in Aufruhr zu versetzen. Grund für die Aufregung: Erstens war die Entwicklung dieser KI laut eigenen Angaben 20- bis 50-mal billiger als die der Konkurrenz. Und zweitens haben die Chinesen gezeigt, dass es – wenn man sich etwas einfallen lässt – auch ohne die maximal teuren Hochleistungschips von Nvidia geht.
Das Branchenbeben hat auch flugs zahlreiche Experten zu messerscharfen Kommentaren verleitet. So habe ich in einem prominenten Wirtschaftsblatt gelesen: Der Erfolg von Deepseek zeige überdeutlich, dass zu viel Geld faul und unkreativ mache. Deutschland brauche wieder mehr „Underdog“-Mentalität!
Bevor Sie als Unternehmenslenker aber nun in Ihre Entwicklungsstube stürmen und Ihren verdutzten Mitarbeitern verkünden, dass ihr Budget ab sofort halbiert wird, damit sie endlich wieder innovativere Arbeit leisten: Halten Sie bitte noch einen kurzen Moment inne.
Maximal kausal
Hinter solchen reflexhaften Aussagen stecken nämlich zwei altbekannte Denkfehler. Diese lassen sich überall, besonders häufig aber beim Fußball und in der Wirtschaft beobachten.
Gewinnt zum Beispiel am Anfang der Saison der bescheidene SC Freiburg gegen den Ligakrösus FC Bayern München, ziehen die „Experten“ diesen Sieg als Beleg dafür heran, dass kleine Budgets kreativer und hoch erfolgreich machen. Am Ende der Saison dagegen, wenn die Münchner dann doch Meister geworden sind, wissen dieselben Experten: Es ist das Geld, das Tore schießt.
Beide Male unterstellen sie eine Kausalität, die es so nicht gibt. FT-Übersetzung Trump-Trades
Hochgradig unterkomplex
Ich denke anlässlich solcher Kommentare wie dem zu Deepseek gern an meinen verstorbenen Doktorvater Prof. Wiendahl zurück. Wenn der eine Aussage völlig bescheuert fand, das aber nicht so deutlich sagen wollte, nannte er sie süffisant „unterkomplex“.
Dieser Beschreibung möchte ich mich an dieser Stelle bedienen: Die Aussage, dass geringere Ressourcen kreativer machen, ist hochgradig unterkomplex.
Warum? Da hilft ein Blick in die Theorie.
Unentscheidbar oder entscheidbar?
Sie wissen wahrscheinlich, dass ich mich in meiner Denke der Denkschule namens „Future Leadership“ bediene, die sich in der Hauptsache auf die Systemtheorie von Niklas Luhmann stützt. Danach gibt es in Unternehmen zwei Sorten von Entscheidungsprämissen: die unentscheidbaren und die entscheidbaren. Die Begriffe sind zugegeben ein bisschen gewöhnungsbedürftig, deshalb hier jeweils ein Beispiel dazu.
NL Die WocheIn jeder Firma gibt es Merkmale, die für Mitarbeiter einen Unterschied machen: Vielleicht geht es ganz besonders familiär zu oder besonders bürokratisch oder meinetwegen auch besonders hip. Von diesem Gefühl können sich Mitarbeiter anstecken lassen. Oder auch abstoßen, je nachdem. Diese „Stimmung“ ist auf jeden Fall spürbare Realität. Doch die Entscheidungsprämisse „Stimmung“ ist unentscheidbar.
Sie als Unternehmer können nicht per Vorgabe erreichen, dass es ab morgen in Ihrem Laden auf einmal familiär zugeht. Oder hip. Oder kreativ und innovativ. Sie können sich das wünschen – logisch. Aber entscheiden im Sinne von bestimmen können Sie es nicht.
Entscheidbare Entscheidungsprämissen sind hingegen beispielsweise: Wie viele Unterschriften muss ein Investitionsantrag haben? Wie viele und welche Leute sollen ein Team bilden? Welche Hierarchiestufen und Entgeltgruppen gibt es, und welche formale Macht haben Vorgesetzte? Über all dies können Sie tatsächlich entscheiden.
Und nun zu den Denkfehlern.
Die Denkfehler
Der erste Denkfehler ist, die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen doch für irgendwie entscheidbar zu halten: Man müsse eben so etwas wie „Kulturprogramme“ ausrufen, dann würde das mit der Stimmung schon werden. Wieder fällt mir mein Doktorvater ein: Das ist hoffnungslos unterkomplex. Die meisten Unternehmen, die das versucht haben, hat die Realität längst eingeholt: Ihre Versuche, die Kultur zu „verbessern“, endeten in Zynismus, Schuldzuweisungen, Misstrauen und Frust.
Der zweite Denkfehler ist, dass die entscheidbaren Entscheidungsprämissen in einer kausalen Beziehung zu den unentscheidbaren Entscheidungsprämissen stehen. Wenn X, dann Y. Wenn Sie die entscheidbare Entscheidung X treffen, dann bewirkt das genau diese Veränderung bei der unentscheidbaren Entscheidungsprämisse Y. Das ist mindestens genauso unterkomplex.
Selbstverständlich gibt es Zusammenhänge zwischen den beiden, das ist nicht zu bestreiten. Sie sind nur typischerweise nicht linear und nicht kausal. Erst ein tiefes Eintauchen in die Organisation erhöht die Wahrscheinlichkeit, dann doch gezielter Einfluss zu nehmen, und zwar so, dass der Ist-Zustand dem gewünschten Zustand näherkommt, statt schlechter zu werden.
Resultat: ungewiss
Denn wenn Sie zum Beispiel die Zahl der nötigen Unterschriften auf dem Investitionsantrag verringern, kann es tatsächlich dazu führen, dass Investitionsentscheidungen schneller und mutiger getroffen werden. Das mag in manchen Fällen mehr kreativen Geist auslösen. Es könnte aber auch sein, dass die Entwicklung träger und dröger wird und zudem mehr Geld ausgegeben wird – weil es in diesem Unternehmen diejenigen zu Ruhm und Ehre bringen, die ein stattliches Budget ihr Eigen nennen.Homeoffice: „Der Zwang zu Präsenz ist das Gegenteil von Kultur“ - Capital.de
Oder – um den Vorschlag vom Anfang wieder aufzugreifen: Wenn Sie künstlich Ihre Entwicklungsbudgets kürzen, finden Ihre Leute vielleicht andere, innovative Wege, und es kommt etwas Kreatives, viel Günstigeres dabei heraus. Möglich. Nicht minder möglich oder sogar wahrscheinlicher ist, dass die Kürzung zu Frust, Lähmung und einem Rückzug auf „wenig vom Alten“ statt „viel vom Neuen“ führt. Sie können also das genaue Gegenteil dessen hervorrufen, was Sie erreichen möchten.
Eines gibt es doch zu lernen!
Als Unternehmer und Wirtschaftsbeobachter nehme ich die Entwicklung rund um Deepseek natürlich zur Kenntnis. Und ganz abseits von der technischen und politischen Bewertung kann ich dem Aufruhr auch viel Schönes abgewinnen: Hier wird ein Wettbewerbsimpuls für das Mega-Thema KI gesetzt, noch dazu aus einem anderen Land als dem Branchenprimus USA. Aus diesem Ereignis jedoch allgemeine Managementformeln abzuleiten und die Behauptung aufzustellen, Budgets korrelierten negativ zur Kreativität, halte ich für absurd.
Wohl gemerkt: Ich rede auch einer positiven Korrelation von Budget und Kreativität nicht das Wort. Ohne eine tiefere Betrachtung aller Einflussgrößen wäre diese Schlussfolgerung genauso Unsinn. Und Zeit für Unsinn hat Deutschland nicht, erst recht auf dem Spielfeld Künstliche Intelligenz – das ist im Übrigen das Einzige, was wir aus meiner Sicht aus der Causa Deepseek wirklich lernen können.
Oder was meinen Sie?