Deutschland – nie war es schlimmer, außer damals, als es schlimmer war, woran sich aber keiner erinnert

Deutschland ging es nie so schlecht wie heute. Könnte man denken. Wenn man ein schlechtes Gedächtnis hat. Ein Journalistenschul-Text aus dem Jahr 1996 könnte helfen, den Kopf umzuparken. Der Beitrag Deutschland – nie war es schlimmer, außer damals, als es schlimmer war, woran sich aber keiner erinnert erschien zuerst auf Indiskretion Ehrensache.

Jan 19, 2025 - 22:51
Deutschland – nie war es schlimmer, außer damals, als es schlimmer war, woran sich aber keiner erinnert

Wir Menschen haben ein irrwitzig schlechtes Gedächtnis.

Das schönste Beispiel dafür ist die Studie „A ten-year follow-up of a study of memory for the attack of September 11, 2001: Flashbulb memories and memories for flashbulb events.“, die Nordamerikas führende Gedächtnisforscher noch am Tag der Anschläge des 11. September 2001 anstießen.

Schon nach kurzer Zeit verschoben sich die Erinnerungen und so entstand eine Art Geschichte, die sich jeder zurecht gelegt hatte – die aber nicht der Realität am Tag oder am Tag nach den Anschlägen entsprach. Trotzdem wurde die verschobene Erinnerung mit voller Überzeugung vorgetragen.

Hinzu kommt, dass wir sehr viele Geschichten von uns erzählen. Doch selten sind es negative Erzählungen. Und so vermitteln wir jüngeren Generationen das Bild einer guten oder zumindest gar nicht so üblen Vergangenheit. Das ist der Grund, warum der Holocaust bei vielen Menschen nach dem Krieg nicht derart im Kopf verankert war wie heute – bis die TV-Serie „Holocaust“ Gespräche auslöste. Auch die Vertriebenen aus Schlesien oder Ostpreußen sprachen kaum über das erlittene Leid, weshalb es heute wenig bewusst ist.

Und so glaubt auch jede Generation, dass krisenhafte Lagen so schlimm sind, wie nie zuvor oder dass der technologische Fortschritt so schnell ist wie in keiner Epoche vorher oder dass es dem eigenen Land in unbekanntem Ausmaß schlecht geht.

Glauben Sie nicht? Dann möchte ich Sie bitten diesen Text zu lesen, den ich gestern ausgegraben habe. Ich bin mir sicher, auch Sie werden einige Male innehalten, schmunzeln oder ihr Gedächtnis in Frage stellen.

Entstanden ist er im Dezember 1996 während meines Volonatriats an der Georg von Holtzbrinck-Schule für Wirtschaftsjournalisten. Es war eine Gruppenaufgabe und, so ich mich recht erinnere, war es die monatliche Hausaufgabe für uns Volontäre. Zuvor hatten wir eine Schulwoche absolviert, in der wir über den Zustand des Wirtschaftsstandortes Deutschland recherchiert hatten.

Was ich nicht weiß: Ob dieser Text jemals im „Handelsblatt“ veröffentlicht worden ist. Ich meine mich zu erinnern, dass unser Lehr-Herr Prof. Ferdinand Simoneit das wollte, aber von der Redaktion abgeblockt wurde – aber da kann ich mich auch täuschen.

Hier also jener Text, der verfasst wurde von Jan Dirk Herbermann, Frank Hornig, Matthias Kamp, Silke Kersting, Michael Kröger, Norbert Kuls, Anke Rezmer, Alexandra Schramm, Holger Schwarz, Nicole Wildberger, Sebastian Wolff und mir.

Erwähnen möchte ich noch, dass wohl die Idee war, eine Baustelle als Bild zu wählen und die Unterzeile des Bildes stand schon fest. Ich habe das mal mit KI nachempfunden. Außerdem der Hinweis: Der Text ist in alter Rechtschreibung.

Weihnachten auf der Baustelle: Denkt Euch, ich habe den Aufschwung gesehen.

Deutschland in der Krise / Dringend gesucht: Wohlstand, Wachstum, Wirtschaftswunder

Wann wird wieder in die Hände gespuckt?

Ein Gespenst geht um in Deutschland: die Angst vor der Zukunft. Immer mehr Firmenpleiten, immer mehr Arbeitslose, immer mehr Staatsschulden. Den Weg aus der Krise scheint niemand zu kennen. Stattdessen weist jeder jedem die Schuld zu. Macht der Wohlstand nur eine Pause, oder steuert das Land in eine Dauerkrise?

„Die Lage war nie so ernst“
Konrad Adenauer, Bundeskanzler von 1949 bis 1963.

Der 29jährige Diplom-Ingenieur Dirk Stellmacher aus Duisburg ist arbeitslos. Seit er vor drei Jahren sein Studium beendete, hat er sich „120 mal beworben und 120 Absagen kassiert“

Der 59jährige Franz Josef Schumacher, Besitzer einer Kfz-Werkstatt, sucht einen Nachfolger; sein Sohn wollte lieber Arzt werden. Schumacher würde seinen Betrieb „sogar verschenken, wenn ich einen geeigneten Kandidaten hätte“.

Arbeitsminister Norbert Blüm beteuerte monatelang, die Renten seien sicher. Jetzt räumte er ein, daß es „keine Ewigkeitsgarantie“ mehr geben könne.

Deutsche ’96/97: Millionen auf Jobsuche oder ohne Mumm, als Unternehmer etwas zu wagen, das politische Personal hoffnungslos überfordert.

Selbst bei einer Zunahme des Bruttosozialprodukts – 1997: um 2,5% auf 3,46 Bill. Mark – wird die Zahl der Arbeitslosen steigen – auf 4,01 Mill. Kanzler Kohl hat sein Wort, die Zahl der Arbeitslosen zum Jahr 2000 zu halbieren, längst zurückgenommen, zufrieden sei er schon, wenn er zwei Drittel der Hälfte erreichen würde.

Deutschland ‚ 96/ 97: Die Deutschen in Ost und West haben immer noch ganz unterschiedliche Sorgen: die im Osten um ihre Identität, die im Westen um die Deutsche Mark, die zum Euro werden soll. Pleiten mit schwerkriminellen Zügen – Schneider-Immobilien, Bremer Vulkan, Skandale der IG Metall – vermiesen die Stimmung. Steuerhinterziehung gilt als Nationalsport, die Schwarzarbeit blüht. „Kollektiver Freizeitpark“ nennt der Kanzler dieses unser Land. Der Deutsche habe den höchsten Lohn, die meisten Krankentage.

Unternehmer verlegen Betriebe ins Ausland. „Made in Germany“ ist kein Qualitätsbegriff mehr. Jeder schiebt dem anderen die Schuld an der Misere zu: Politiker den Unternehmern, Unternehmer den Politikern; der DGB ist gegen alle und pflegt eine doppelte Moral: Obergewerkschafter Schulte schreit nach mehr Lehrstellen und bildet selbst nicht einen Lehrling aus.

Einen Beweis für verlorene Bodenhaftung liefert der Kanzler, als er die trostlose Lage der Nation ungerührt als „Bestens“ bezeichnet. Dabei zeigt schon das Fundament des Standorts Deutschland, der soziale Friede, Risse.

„Wohlstand für alle“ hieß das Zauberwort, mit dem Ludwig Erhard nach 1949 das Wirtschaftswunder vollbrachte. Heute klingt das wie ein Kinderwunsch. Der lange Abschied vom Wohlstand 1945 – die Stunde Null. Zerbombte Städte, die Industrie zerstört. Die Weichen zum deutschen Wohlstand stellen die Amerikaner mit dem Marshall-Plan. Nach der Währungsreform (1948) und dem Start der sozialen Marktwirtschaft wird der Käfer zum Symbol des Aufschwungs:

Er läuft und läuft und läuft – genauso brummt die Wirtschaft mit 12% Wachstum jährlich. Pfiffige Bastler wie Max Grundig mit seinem Baukasten-Radio „Heinzelmann“ geben den Ton an. Neckermann macht’s möglich. Weil überall im Land Arbeiter fehlen, werden Millionen Ausländer angeheuert. 1964 steigt in Köln der Portugiese Armando Sá Rodrigues aus dem Zug, eine Blaskapelle lärmt, Promis reden, die millionste Arbeitskraft bekommt ein Moped.

1966/67 – die erste Rezession. Mit staatlichen Programmen gelingt es Wirtschaftsminister Karl Schiller, Beschäftigung und Wachstum wieder anzukurbeln. Mit dem Ölpreisschock 1973/74 muß sich das Land an Arbeitslose gewöhnen. Auch „Weltökonom“ Helmut Schmidt muß mit dem fatalen Trend leben – genau wie Helmut Kohl. Die Arbeitslosenzahlen brechen jedes Jahr den alten Rekord.

„Reformen voranbringen“, mahnen die Fünf Weisen in ihrem letzten Herbstgutachten. Zu Recht, denn mit Sparen und Streichen kuriert die Regierung nur an den Symptomen – „Hektischen Aktionismus“ nennen das die Wirtschaftsforscher. Gewerbekapital- und Vermögensteuer zum Beispiel sollten abgeschafft werden – und sind immer noch in Kraft.

Die Sorge um den gesicherten Lebensabend ist zum großen Angstmacher geworden. Die Rentenbeiträge werden 1997 die psychologisch fatale 20%-Marke überspringen.

Die Reform der Schulen und Universitäten wird nur diskutiert. Derweil kürzt Waigel mal eben 166 Mill. DM aus dem Forschungsetat.

Ende 1989 fällt die Mauer – nach dem Wirtschaftswunder das zweite deutsche Wunder. Die Deutschen in Ost und West nehmen sich vor, wieder ein einzig Volk zu werden. Doch es kommt zu Fehleinschätzungen und Fehlern. Der Kanzler läßt sich einreden, die marode DDR werde ein Industrievermögen von 400 Mrd.

DM in das neue Deutschland einbringen. Denen im Osten verheißt er „blühende Landschaften“, denen im Westen verspricht er, alles werde ohne Steuererhöhung gehen. Die Ost-Sparguthaben werden 1:1 umgetauscht, man einigt sich auf die Formel „Rückgabe vor Entschädigung“.

Das Industrievermögen im Osten ist wertlos; die Treuhandanstalt selbst legt noch 275 Mrd. DM drauf. Ostdeutschland wird Industriebrache. Die Westdeutschen pumpen fast 1000 Mrd. DM in die neuen Länder. Die 1:1-Umstellung wird für die Ostbetriebe zur schweren Hypothek. Ganze Straßenzüge bleiben Ruinen, weil sich kein Investor traut, auf einem Gelände zu bauen, dessen Eigentümer keiner kennt.

Sind die Experten zunächst noch überzeugt, die Wiedervereinigung sei „in fünf Jahren erledigt“, so erkennen bald alle, daß es mindestens eine Generation dauert, zusammenwachsen zu lassen, was zusammengehört.

Die Unternehmer machen es nicht besser als die Politiker. Sie haben keine neuen Ideen, Innovationen werden nicht vermarktet. Siemens erfindet das Fax – und überläßt anderen das Weltgeschäft.

Aber auch die Gewerkschaften haben Mitschuld an der Arbeitslosigkeit. Sie haben sich zu einem Kartell der Arbeitsplatzbesitzer entwickelt. Mit ihrer Hilfe sind in Deutschland die Arbeitskosten schneller gestiegen als im Rest der EU. Folge: Die Wettbewerbssituation hat sich drastisch verschlechtert.

Also versucht man überstürzt, den Sozialstaat gesundzuschrumpfen. Aber mit der Kürzung der Lohnfortzahlung ist ein Grundpfeiler der sozialen Absicherung angegriffen worden. Aus Sozialpartnern werden Gegner: Auf der einen Seite die Gewerkschaften, die den vollen Lohn bei Krankheit um jeden Preis verteidigen, auf der anderen die Arbeitgeber, die Nullrunden durchdrücken wollen.

Die Erkenntnis der Wirtschaftsexperten ist trostlos: Der Zusammenhang zwischen Wachstum der Wirtschaft und dem Anstieg der Beschäftigung ist aufgelöst; die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit auch – „jobless growth“.

Denn sie wissen nicht, was sie sollen

Aber wo ist es besser? Die Amerikaner haben nur Spott übrig für unsere Probleme. „In Deutschland gibt es vier Millionen Arbeitslose, aber sonntags kann man keine Milch kaufen“, höhnt „Newsweek“. Amerikas Wirtschaft dagegen wachst so stark, daß Arbeitskräfte gesucht sind. Antreiber sind Menschen mit Ideen, die auch bereit sind, etwas zu unternehmen.

Menschen wie Steve Jasik aus Menlo Park/ Cal. Als 1984 sein Job als Programmierer in Gefahr gerät, leiht er sich Geld und gründet seine eigene Firma. Er entwickelt Software, die Fehler in anderen Programmen aufspürt. Jasik verdient heute 200 000 Dollar im Jahr.

Selbständig werden, sein eigener Herr sein – diesen Geist braucht auch Deutschland, glaubt Unternehmensberater Hermann Simon: „Wir haben viel zu wenig Arbeitsplatz-Beschaffer.“ Chancen bieten vor allem die neuen Märkte. Spätestens im Jahr 2000 soll die Informations- und Kommunikationstechnik die größte Industrie im Land sein. Debis-Chef Klaus Mangold: „Die neuen Medien werden in den nächsten zehn Jahren vier Millionen Jobs schaffen.“

Dienstleistungen seien die Chance, erklärt Hans-Jörg Bullinger vom Fraunhofer Institut und bleibt skeptisch: Deutsche wollten nicht dienen. Beim internationalen Ranking der Dienstleister belegt die Bundesrepublik nur Platz 23.

Woher aber sollen mutige Erfinder das Kapital nehmen? Noch immer ist eine Börse für Kleinunternehmer nur geplant. US-Biotechnikfirmen dagegen beschafften sich 1995 drei Viertel ihres Kapitals über die Börse. Deutsche Gründer haben das Warten auf eine Risiko-Kapital-Börse satt – und wandern aus.

Beispiel: Die Digitale Telekabel AG (DTA), Frankfurt/ Main, ging im November an den Markt für kleine Werte an der Wall Street, die Elektronikbörse NASDAQ. Die Frankfurter rechnen noch in diesem Jahr mit der Verdopplung ihres Kapitals auf 4 Mill. DM durch den Börsengang. „Zahlreiche Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum haben sich bei uns beworben“, berichtet aus Brüssel Erik Hallmann der Marktaufsicht der EASDAQ, des europäischen Gegenstücks der NASDAQ.

Ihren Teil zur Wende auf dem Arbeitsmarkt will die rotgrüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen beisteuern. Sie hob die Gründer-Offensive „GO!“ aus der Taufe – Ziel: bürokratische Hürden für Existenzgründer abbauen. „GO!“ ist gut gestartet.

Vorschläge zur Deregulierung macht der Wirtschaftsrat der CDU: „Der Kündigungsschutz muß gelockert werden.“ Ihr Koalitionspartner FDP hat die Subventionen wieder im Visier: „So schnell und so früh wie möglich“, fordert ihr Fraktionsvorsitzender Hermann Otto Solms.

Noch dringender muß der Steuerdschungel gelichtet werden. Doch bisher gibt es nur wenige Vorschläge. So etwa die „Flat Tax“ des wirtschaftspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion, Gunnar Uldall: wenige, niedrige Steuersätze ohne sonstige Vergünstigungen.

Erste gute Nachrichten könnten Signale der ersehnten Wende sein: Der Veba-Konzern will in seiner neuen Sparte Telekommunikation 15 000 Arbeitsplätze schaffen. Im Verein mit RWE und der britischen Cable & Wireless sollen bis zum Jahr 2000 120 Mrd. DM investiert werden.

Bruno Banani Underwear, ein Unterwäsche-Designer in Chemnitz, bekennt sich zum Standort Deutschland und bleibt im Land. Selbst Japaner empfehlen die Sachsen-Dessous „als vorbildliches europäisches Produkt“.

Doch Grundlage für jede Änderung ist die Veränderung im Kopf. Wieviel da noch zu leisten ist, zeigen Frauen in Düsseldorf. Sie gründeten einen „Dienstleistungspool für Privathaushalte.“ Ihre Sprecherin stellt jedoch sofort klar: „Derartige Unternehmen müssen natürlich subventioniert werden.“

Der Beitrag Deutschland – nie war es schlimmer, außer damals, als es schlimmer war, woran sich aber keiner erinnert erschien zuerst auf Indiskretion Ehrensache.