Kirchenasyl : "Wenn Menschen in Not sind, dann müssen wir unsere Türen öffnen."
Gotteshäuser gelten als sichere Orte. Hinter ihren Türen finden Menschen, die in größter Not sind, Zuflucht. Doch ist diese jahrhundertealte Tradition in Gefahr?
Gotteshäuser gelten als sichere Orte. Hinter ihren Türen finden Menschen, die in größter Not sind, Zuflucht. Doch ist diese jahrhundertealte Tradition in Gefahr?
Es war in der Nacht auf den 30. September 2024, als in Hamburg ein junger Mann von der Polizei aus dem Kirchenasyl in der katholischen Pfarrei Heilige Elisabeth geholt wurde. Dort hatte er im August Schutz gesucht. Der 29-jährige Afghane, der sich seit zehn Jahren auf der Flucht befindet, war in großer Not. Javid leidet unter einer psychischen Erkrankung. "Ein Flüchtling, der sich in einer überaus schwierigen Lage befand, wurde abgeschoben", erklärte der katholische Erzbischof Stefan Heße sein Unverständnis. "Die befürchteten humanitären Härten, auf die vonseiten der Kirchengemeinde aufmerksam gemacht wurde, fanden keine Berücksichtigung." Auch Bischöfin Kirsten Fehrs, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, fand deutliche Worte für ihre Erschütterung: "Wenn Menschen in Not sind, dann müssen wir unsere Türen öffnen." Kirchenasyl sei ein Ausdruck von Nächstenliebe und christlicher Verantwortung und kein "juristisches Schlupfloch", so Fehrs. "Es ist ein Signal. Ein Zeichen, dass unser Gewissen wach bleibt."
In Hamburg war dies der erste Bruch des Kirchenasyls seit 40 Jahren und damit auch ein Tabubruch: dass die Polizei Kirchenräume stürmt, um Menschen abzuschieben, schien undenkbar. Aber das Vorgehen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist kein Einzelfall: Mitte Mai holte die Polizei im niedersächsischen Bienenbüttel Vater und Sohn, beide russische Kriegsdienstverweigerer, die 16-jährige Tochter und die Mutter der Familie, die erkrankt war und behandelt wurde, aus dem Gemeindehaus. In Schwerin trat vor Weihnachten 2023 sogar ein bewaffnetes Sondereinsatzkommando an, um eine afghanische Frauenrechtlerin mit Familie, darunter zwei minderjährige Kinder, aus dem Kirchenasyl abzuschieben. An die zehn Räumungen in 18 Monaten, das sind mehr Fälle als in den letzten zehn Jahren. Dabei hat Kirchenasyl eine lange Tradition: Schon in vorchristlicher Zeit galten Tempel als heilige Orte, an denen keine Gewalt ausgeübt werden durfte und in die Verfolgte flüchteten. Dass die christliche Kirche Schutz in ihren Räumen bot, ist seit dem vierten Jahrhundert belegt. Das römische Recht brachte dem Kirchenasyl ein Jahrhundert später offiziell die Anerkennung. Der Bruch wurde damals sogar mit der Todesstrafe geahndet.
In Deutschland wird das Kirchenasyl, wie wir es heute kennen, seit über 40 Jahren gewährt: 1983 nahm sich der politische Flüchtling und türkische Aktivist Cemal Kemal Altun aus Angst vor seiner Abschiebung in Berlin das Leben. Seitdem bieten evangelische und katholische Kirchengemeinden Menschen in ihren Räumen Schutz, wenn ihnen durch eine Abschiebung Gefahr für Leib und Leben droht. Auch Familientrennungen oder schwere Krankheiten können Gründe sein, warum eine Gemeinde Menschen in Not im Kirchenasyl aufnimmt und durch viel Engagement und auch ehrenamtlichen Einsatz bis zu sechs Monate versorgt. Ziel ist, dass das BAMF in dieser Zeit die Fälle erneut anschaut. Für viele geflüchtete Menschen ist das die letzte Chance auf eine faire Prüfung ihrer Schutzgründe und die allerletzte Hoffnung auf Sicherheit.
Dabei stehen die Gemeinden nicht über dem Gesetz: Rechtlich hat das Kirchengelände keine Ausnahmestellung im Hoheitsgebiet des Staates. Aber der besondere Schutzraum wurde bislang als christlich-humanitäre Tradition respektiert – so vereinbarten es 2015 die Beauftragten der Kirchen und das BAMF. Im Gegenzug begründen die Gemeinden jeden Fall im Kirchenasyl gegenüber dem Amt ausführlich. Das bedeutet allerdings auch, dass immer nachvollziehbar ist, wo und unter welchen Umständen die Menschen in den Gemeinden anzutreffen sind. Und genau das könnte ihnen jetzt zum Verhängnis werden, wenn in einem zunehmend aufgeheizten politischen Klima Erfolge bei der Abschiebung hermüssen.
Die Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche zählt in Deutschland circa 540 Fälle von Kirchenasyl mit rund 690 Menschen, unter ihnen über 110 Kinder. Sie fordert: "Hände weg vom Kirchenasyl!" Wie es aussieht, könnten die 75 000 Unterschriften, die für die dazugehörige Petition an Nancy Faeser und die Innenministerinnen und -minister der Länder gesammelt werden sollen (mehr Infos auf weact.de), zeitnah erreicht werden.