Rekord bei jugendlichen Rekruten: Wie Militaristen unseren Nachwuchs abgreifen
Noch nie gab es so viele minderjährige Rekruten bei der Bundeswehr, wie eine aktuelle BSW-Anfrage verdeutlicht – das ist skandalös und verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Auch auf anderen Ebenen haben Militaristen in Deutschland Zugriff auf den Nachwuchs, etwa durch Auftritte an Schulen. Gut ist, wenn Bundesländer wie nun Brandenburg die Praxis der militaristischen Meinungsmache anWeiterlesen
Noch nie gab es so viele minderjährige Rekruten bei der Bundeswehr, wie eine aktuelle BSW-Anfrage verdeutlicht – das ist skandalös und verstößt gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Auch auf anderen Ebenen haben Militaristen in Deutschland Zugriff auf den Nachwuchs, etwa durch Auftritte an Schulen. Gut ist, wenn Bundesländer wie nun Brandenburg die Praxis der militaristischen Meinungsmache an Schulen ändern wollen und dadurch der überwältigenden und allumfassenden aktuellen Kriegspropaganda erste Schranken setzen. Ein Kommentar von Tobias Riegel
Hinweis: Das Titelbild ist ein fiktives Symbolbild, hergestellt mit künstlicher Intelligenz (Grok)
Die Zahl der minderjährigen Rekruten bei der Bundeswehr hat 2024 ein Rekordhoch erreicht, wie Medien berichten. Von den im vergangenen Jahr insgesamt 20.284 neu eingestellten Soldatinnen und Soldaten waren 2203 bei Dienstantritt erst 17 Jahre alt und damit minderjährig. Das entspricht einem Anteil von 10,9 Prozent, seit Erfassung der Daten 2011 habe dieser Wert noch nie so hoch gelegen. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Anfrage der Abgeordneten Żaklin Nastić vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hervor, über die die „Welt“ berichtet.
Die Praxis, Minderjährige in der Bundeswehr zu beschäftigen, sei seit Jahren umstritten, Deutschland sei schließlich Unterzeichner des sogenannten Fakultativprotokolls der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, wonach für Mitglieder der Streitkräfte ein Mindestalter von 18 Jahren gilt.
Die Bundeswehr beziehe sich allerdings auf eine Sonderregelung, nach der unter Zustimmung der Eltern auch 17-Jährige zu Ausbildungszwecken rekrutiert werden können. Voraussetzung dabei sei, dass die Jugendlichen nicht in kriegerischen Auseinandersetzungen eingesetzt würden. Ansonsten würden die Rekruten aber die reguläre militärische Ausbildung erhalten.
Bei diesen Tendenzen stellt sich auch die Frage nach der Verantwortung der zustimmenden Eltern. Und: Neben der überwältigenden und allumfassenden aktuellen Kriegspropaganda müssten als Aspekte, die das Phänomen der (zu) jungen Rekruten fördern, zusätzlich soziale Faktoren untersucht werden.
Bundeswehr betreibt „völkerrechtswidrige Praxis“
Dem Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention zufolge ist Deutschland eines von nur 46 Ländern weltweit, die Minderjährige in ihren Truppen beschäftigen. Mehr als 150 Länder sollen dieser Praxis dagegen abgeschworen haben. Der nun bekannt gewordene Rekordwert für das zurückliegende Jahr trifft entsprechend auf Kritik. Ralf Willinger von der Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes und Sprecher der Kampagne „Unter 18 nie – Keine Minderjährigen in der Bundeswehr“, sagte gegenüber der „Welt“:
„Noch nie hat die Bundeswehr mehr Minderjährige als Soldatinnen und Soldaten rekrutiert als letztes Jahr. Viele von ihnen werden schwerwiegende Schäden erleiden: Allein im Jahr 2023 wurden dort 15 minderjährige Soldaten Opfer von sexueller Gewalt, 35 erlitten Unfälle, viele weitere psychische Störungen und Traumatisierungen.“
Es sei schockierend, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius und die Bundesregierung dennoch an dieser „völkerrechtswidrigen Praxis“ festhielten. Die nächste Bundesregierung müsse dies ändern. Das Verteidigungsministerium rechtfertigt hingegen die aktuelle Praxis. Eine Sprecherin wird von der „Welt“ mit einem verdächtig „überspezifischen” Dementi zitiert:
„Die Bundeswehr stellt sicher, dass 17-jährige Soldatinnen und Soldaten auf keinen Fall eigenverantwortlich und außerhalb der militärischen Ausbildung Funktionen ausüben, in denen sie mit dem Gebrauch der Waffe konfrontiert sein könnten.“
„Minderjährige dürfen nicht an Bundestagswahlen teilnehmen, aber für das Militär sind sie erwachsen genug“
Wie ein Verteidigungsministerium in neuer politischer Konstellation nach der Wahl vorgehen wird, bleibt offen – anscheinend soll die laut dem „Terre des Hommes“-Sprecher Willinger „völkerrechtswidrige Praxis“ einfach fortgesetzt werden. Der verteidigungspolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag etwa strebt keine Änderung an. Florian Hahn (CSU) sagte laut „Welt“:
„Die bestehenden Regelungen inklusive der getroffenen Schutzmaßnahmen haben sich bewährt. Wir sehen keinen Grund, daran derzeit etwas zu ändern.“
SPD-Verteidigungspolitiker Falko Droßmann behauptet:
„Es wäre nicht nachvollziehbar, wenn 17-Jährige zur Polizei, zum Zoll oder auch zur Bundespolizei gehen können, nicht aber zu den Streitkräften und dies in Zeiten, in denen die Verteidigungsfähigkeit unseres Landes wichtiger ist denn je. Selbstverständlich ist, dass alle Regelungen des Jugendschutzes streng eingehalten werden. Hier sind die Streitkräfte aber ausgesprochen gut sensibilisiert und vorbildlich.“
Die BSW-Abgeordnete Nasti, die die schriftliche Anfrage an die Bundesregierung gestellt hatte, stellt dagegen treffend fest:
„Minderjährige dürfen jedoch nicht zur Kompensation von Personalmangel in der Bundeswehr herangezogen werden. In Deutschland dürfen Minderjährige nicht an Bundestagswahlen teilnehmen, aber für das Militär sind sie erwachsen genug.“
Militaristen an den Schulen
Eine der verschiedenen Voraussetzungen für die hohe Zahl jugendlicher Rekruten ist mutmaßlich die Indoktrination bereits von Jugendlichen mit der aktuellen militaristischen Meinungsmache – und das schon an den Schulen.
Da ist es gut, dass die Brandenburger Landesregierung auf Drängen des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) künftig den Zugang der Bundeswehr zu den Schulen beschränken will, wie etwa die „Märkische Allgemeine Zeitung“ (MAZ) berichtet. Darauf hätten sich SPD und BSW in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt. Das Vorhaben geht in die richtige Richtung, man würde sich aber wünschen, dass die neuen Regeln noch strenger wären, denn der Zugang zu Schülern soll den PR-Offizieren der Bundeswehr laut den Medienberichten wohl nicht ganz verwehrt werden: „Eine Nachwuchswerbung der Bundeswehr kann in der Unterrichtszeit, aber nicht im Unterricht stattfinden“, so die Ankündigung.
Falk Peschel, bildungspolitischer Sprecher des BSW, betont: „Es müssen auch Akteure eingeladen werden, die eine gegensätzliche Position zur Bundeswehr vertreten, damit sich die Schüler selbst ein Bild machen können.“ Seine Partei plädiere außerdem dafür, ein Mindestalter einzuführen, ab dem es der Bundeswehr erst erlaubt sei, mit Schülern sprechen zu dürfen.
Bislang entscheiden Schulen und Lehrkräfte in Brandenburg eigenständig, ob sie Vertreter der Bundeswehr einladen. 2023 wurde die Bundeswehr zu 113 Schulen in Brandenburg, 2024 zu 118 Schulen eingeladen, wie eine Sprecherin der Bundeswehr erklärte. Dabei gibt es laut Bundeswehr zwei Arten von Schulbesuchen: Zum einen würden Jugendoffiziere als Referenten auftreten. Sie würden Vorträge halten, mit den Schülern diskutieren, und ihnen so „die Aufgaben der Bundeswehr und ihrer Rolle als Parlamentsarmee bei der Beteiligung an Einsätzen und Missionen näherzubringen”, erklärt die Bundeswehr.
Bei der Auswahl solcher Vorträge seien die Lehrer, welche die Jugendoffiziere einladen, an den sogenannten „Beutelsbacher Konsens“ gebunden: Demzufolge dürfen Schüler durch solche Vorträge nicht indoktriniert oder einseitig beeinflusst werden. Vielmehr sollen die Schüler, indem sie sich mit verschiedenen Positionen auseinandersetzen, zu einer differenzierten Meinung befähigt werden. Solche Vorträge der Jugendoffiziere würden außerdem strikt dem Werbeverbot unterstehen, wie das Brandenburger Innenministerium mitteilte. „Fragen der Personalgewinnung dürfen ausdrücklich keine Rolle spielen“, so Pressesprecher Alexander Engels.
Meiner Mutmaßung nach werden diese beiden sehr wichtigen Punkte (keine Anwerbung, keine Indoktrination) in der Praxis oft verletzt – das macht die Praxis zusätzlich skandalös. Und wer soll denn die angemahnten „verschiedenen Positionen“ formulieren, wenn die Schüler innerhalb und außerhalb der Schule fast ausschließlich der momentan gültigen Mischung aus Russenhass und Rüstungsforderungen ausgesetzt sind? Und wenn davon abweichende Meinungen oft gar als Propaganda von „nützlichen Idioten Putins“ verhetzt werden?
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) ist erwartungsgemäß gegen neue Beschränkungen für den Zugang der Bundeswehr in Schulen, wie Medien berichten, er wünscht sich „uneingeschränkten“ Zugang: „Die Aufgabe der Jugendoffizierinnen und Jugendoffiziere sollte Teil des Bildungsangebots sein. Ich würde mir daher wünschen, dass sie uneingeschränkt in Schulen eingeladen werden, gerne gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft.“ In Thüringen haben CDU, BSW und SPD in ihrem Koalitionsvertrag festgehalten: „Der Unterricht darf keine Werbeplattform für eine berufliche Zukunft bei der Bundeswehr sein.“
Die NachDenkSeiten sind in diversen Artikeln auf die Frage der Indoktrination bereits der Jugend durch Kriegstreiber eingegangen, zum Beispiel in „Die Bundeswehr hat an Schulen grundsätzlich nichts zu suchen“ oder Offener Brief an den Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes zu dessen Forderung, die durch den Ukrainekrieg angeblich entstandene neue Bedrohungslage an den Schulen zu vermitteln oder „Kriegstaugliches Mindset“ oder Schulen im Visier: „Duck and Cover“ und Militär im Klassenzimmer? .
Auch wenn man sich weitergehende Einschränkungen der militaristischen Meinungsmache im öffentlichen Raum wünschen würde: Die hier beschriebenen Vorstöße in Brandenburg und Thüringen gehen in die richtige Richtung, ebenso wie die Werbeverbote für Militaristen in Zwickau .
Doch der Appell bleibt dringend: Hände weg von unseren Kindern. Es wäre schön, wenn möglichst viele Eltern ihre Zustimmung zum Zugriff der Bundeswehr auf ihre minderjährigen Kinder verweigern würden und (mit Reinhard Mey) sagen würden: Nein, meine Söhne gebe ich nicht!
Titelbild: Symbolbild/Grok