Parteien-Check Erinnerungskultur: Echtes Anliegen oder nur Lippenbekenntnisse?
Welche Erinnerungskultur verfolgen die Parteien in ihren Wahlprogrammen? Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora schaut für uns drauf. Weiterlesen Parteien-Check Erinnerungskultur: Echtes Anliegen oder nur Lippenbekenntnisse? The post Parteien-Check Erinnerungskultur: Echtes Anliegen oder nur Lippenbekenntnisse? appeared first on Volksverpetzer.
Ein Gastbeitrag von Jens-Christian Wagner
Die Erinnerungskultur mag angesichts der immensen Herausforderungen, vor denen die Politik derzeit angesichts vieler innen- und außenpolitischer Krisen und Veränderungs-Prozessen steht, für manche ein weniger wichtiges Thema sein. Dabei ist die Auseinandersetzung insbesondere mit den NS-Verbrechen, aber auch mit der SED-Diktatur und kolonialem Unrecht grundlegend für unsere Demokratie. Der Blick auf Verbrechen in der Vergangenheit lehrt uns, in welcher Gesellschaft wir nicht leben wollen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Diesen Grundsatz haben die Mitwirkenden des Grundgesetz, als sie ihn 1949 formuliert haben, ganz wesentlich auch aus der Erfahrung mit dem NS-Terror und den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges abgeleitet. Wenn sich Parteien in ihren Wahlprogrammen zur Erinnerungskultur äußern, ist das somit nicht nur eine Frage der ethisch gebotenen Würdigung der Opfer, sondern auch ein Indikator, wie sie zu den Lehren aus der Geschichte stehen: der Achtung von Demokratie und unteilbaren Menschenrechten.
Erinnerungskultur im wahlkampf für den Bundestag
Vor diesem Hintergrund ist der Blick auf die geschichtspolitischen Positionen der Parteien in ihren Programmen zur Bundestagswahl im Februar 2025 sehr aufschlussreich. Es fallen deutliche Unterschiede auf, sowohl begrifflich, als auch inhaltlich. CDU/CSU und AfD etwa verwenden beim Blick auf die Geschichte nationalkonservative Begriffe wie „Tradition“, „Brauchtum“ und „Identität“ – Worte, die man in den Programmen anderer Parteien erfolglos suchen wird. Aufschlussreich ist auch, welche Epochen deutscher Geschichte die Parteien nennen. Hier spielt insbesondere die geschichtspolitisch sensible Gewichtung zwischen der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und dem kritischen Blick auf das Unrecht in der DDR eine wichtige Rolle.
Anmerkung: Es handelt sich bei fast allen Programmen bislang um Entwürfe, die in den nächsten Tagen/Wochen endgültig beschlossen werden. Einzige Ausnahme ist die CDU/CSU, die ihr Wahlprogramm schon im Dezember beschlossen hat. Bei allen anderen Parteien sind Veränderungen noch möglich.
SPD: Dem Ziel am nächsten
Zeitgemäße historisch-politische Bildung setzt auf eine multiperspektivische, wissenschaftlich fundierte und quellengestützte kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte mit dem Ziel, Geschichtsbewusstsein und historische Urteilskraft als wesentliche Grundvoraussetzungen demokratischer Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft zu stärken. Diesem Ziel kommt die SPD in ihrem Wahlprogramm am nächsten. Sie fordert eine Stärkung des kritischen Geschichtsbewusstseins zur Bekämpfung demokratiegefährdender Geschichtsverfälschungen und der Desinformation. Dazu müsse die politische Bildung gestärkt werden. Positiv hervorzuheben ist auch der Verweis auf die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Gedenkstätten, Universitäten und Museen bei Forschung und Bildung. Auch der Schutz der Gremien vor rechtsextremer Einflussnahme ist als Ziel benannt.
Die SPD benennt damit ein drängendes Problem, vor dem etliche Gedenkstätten und Museen derzeit stehen: Vielfach stehen Mandatsträger:innen der AfD qua Satzung Sitze in Stiftungsräten oder Kuratorien von Museen und Gedenkstätten zu. Positiv ist im Wahlprogramm der SPD auch die Wertschätzung ehrenamtlicher Initiativen hervorzuheben, ohne die es viele Gedenkstätten gar nicht gäbe. Das Versprechen der „ausreichenden“ Finanzierung von Gedenkstätten ist allerdings sehr zurückhaltend formuliert. Besser wäre es zudem gewesen, anwendungsbezogene Forschung auch als Aufgabe von Museen und Gedenkstätten zu benennen. Wissenschaftlich fundierte Ausstellungen lassen sich ohne eigene Forschung nicht realisieren, eigentlich eine Binsenweisheit, der die Förderpraxis des Bundes jedoch bislang kaum entspricht.
Grüne: Umfangreich, aber Manches fehlt
Deutlich umfangreicher als bei der SPD sind die Passagen zur Erinnerungskultur im Wahlprogramm von Bündnis 90/die Grünen. Manche tragen affirmative Züge mit einem teils instrumentellen Zugriff auf die Geschichte und der Forderung nach prestigeträchtigen Großprojekten, die leider bisweilen zu Lasten der institutionellen Förderung bestehender Einrichtungen gehen. Positiv zu bewerten ist hingegen die terminologische und inhaltliche Unterscheidung zwischen verschiedenen Verbrechenskomplexen; Relativierungen werden so vermieden.
In den Mittelpunkt stellen die Grünen die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Dabei werden neben der Shoah der Antiziganismus (auch nach 1945) und die NS-Krankenmorde erwähnt, andere Opfergruppen (etwa sowjetische Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter:innen) hingegen nicht. Die Bedeutung von Gedenkstätten (für deren Finanzierung aber wie im Programm der SPD nur „ausreichend“ gesorgt werden soll) und des Geschichtsunterrichts für die Vermittlung eines kritischen Geschichtsbewusstseins wird hervorgehoben; auch das ist positiv zu bewerten. Zudem soll die Auseinandersetzung mit dem SED-Unrecht und dem Kolonialismus vorangetrieben werden.
Leider nicht erwähnt wird die Bedeutung der Forschung, u.a. an Universitäten, aber auch in Gedenkstätten und Museen. Dabei braucht Gedenken Wissen. Auch die Auseinandersetzung mit der Täterschaft fehlt. In diesem Punkt unterscheidet sich das Programm der Grünen allerdings nicht von dem aller anderen Parteien.
FDP: Fokus allein auf die Shoah
Im Wahlprogramm der FDP steht leider so gut wie nichts zur Erinnerungskultur. Einzige Ausnahme: Im Kapitel zur Schulpolitik werden zur Bekämpfung des Antisemitismus verpflichtende Besuche in „Holocaust-Gedenkstätten“ gefordert. Auch Besuche in Gedenkstätten zum SED-Unrecht oder zur deutschen Teilung sollen für Schüler:innen Pflicht werden. Ganz abgesehen von der didaktisch problematischen Besuchspflicht in Gedenkstätten (Zwang wirkt nicht lernfördernd): Diese müssten erst einmal genügend Personal und Räumlichkeiten haben, dem nachzukommen. Dazu steht nichts im Programm. Dabei sind etliche Gedenkstätten wie etwa Buchenwald oder Mittelbau-Dora jetzt schon für Schulklassen auf Jahre hinaus mehr der weniger ausgebucht.
Und, ganz wichtig: Die Gedenkstätten widmen sich nicht nur dem Holocaust, also der Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden, sondern der ganzen Bandbreite der NS-Verbrechen. Dazu gehören etwa die Verfolgung politischer Gegner:innen, Zwangsarbeit, Krankenmorde, Mord an Kriegsgefangenen, Verfolgung und Mord an Sinti:zze und Rom:nja, Besatzungsherrschaft, Gestapo-Terror und nicht zuletzt auch die Täterschaft. Die NS-Verbrechen auf die Shoah zu reduzieren (auch wenn diese qualitativ und quantitativ heraussticht), blendet viele andere Opfergruppen aus, und es wird der Komplexität des NS-Terrors nicht gerecht.
BSW: Exakt nichts zur Erinnerungskultur
Die Positionen zur Erinnerungskultur im Wahlprogramm des BSW lassen sich sehr schnell vorstellen. Denn im Programm (veröffentlicht ist bislang nur ein Kurzprogramm) steht exakt nichts zur Erinnerungskultur. Überhaupt kommen Kultur, Wissenschaft und Geschichte im Papier nicht vor – auch ein Statement zu ihrer Relevanz für die Wagenknecht-Partei.
Linke: Ausführungen dürftig
Auch im Programmentwurf der Linken sind die Ausführungen zur Erinnerungskultur dürftig. Man setze sich „für eine antifaschistische Erinnerungskultur ein, um das Gedenken an die Opfer von damals und heute zu bewahren.“ Das klingt eher nach AgitProp denn nach wissenschaftlich fundierter Auseinandersetzung mit Ursachen und Folgen der NS-Verbrechen und einer kritischen Auseinandersetzung mit der Motivation von Täter:innen und Profiteuren. Ausführungen zu Inhalten und Formaten der historisch-politischen Bildung sucht man denn auch vergebens.
Immerhin ist aber von einer Stärkung der politischen Bildung die Rede. Gedenkstätten werden nicht erwähnt, auch nicht Ziele wie ein reflexives Geschichtsbewusstsein. Das DDR-Unrecht und der Kolonialismus bleiben unerwähnt. Einziger Lichtblick ist die Forderung nach einer finanziellen Unterstützung der Provenienzforschung. Der Hinweis auf „Opfer von damals und heute“ ist nicht unproblematisch. Ohne das Leiden der Opfer heutigen rechtsextremen Terrors schmälern zu wollen: NS-Verbrechen wie die Shoah (die im Programmentwurf nicht erwähnt wird) drohen durch solche unterkomplexen Formulierungen relativiert zu werden. Bleibt zu hoffen, dass diese Passagen vor der Verabschiedung des Programms durch den Parteitag noch einmal überarbeitet werden.
CDU/CSU: Zurück in die 1950er Jahre
Das Wahlprogramm von CDU/CSU ist bereits endgültig – und mit seinen Passagen zur Erinnerungskultur eine deutliche Enttäuschung. Tatsächlich offenbart es einen geschichtspolitischen Riesenschritt zurück in die 1950er Jahre. Die NS-Verbrechen werden nicht einmal namentlich erwähnt. Es ist nur undifferenziert und gleichsetzend von den „beiden totalitären Regime[n] in Deutschland“ die Rede (und das auch nur in einer Zeile). Explizit aufgeführt wird das „SED-Regime“, das weiter aufgearbeitet werden solle. Einen gegenüber dem Nationalsozialismus mehr als zwangzigfachen Raum nehmen Ausführungen zu Flucht und Vertreibung von Deutschen nach 1945 und zu Spätaussiedlern ein.
Das Programm offenbart damit zwar noch nicht eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ (à la Höcke), aber doch eine deutliche Akzentverschiebung mit Formulierungen, die an die deutsche Selbstviktimisierung in den ersten Nachkriegsjahrzehnten erinnern. Die nivellierenden Formulierungen zu den „beiden totalitären Regimen“ fallen zudem weit hinter den erinnerungskulturellen Konsens der 1990er Jahre zurück, der die Unterschiede zwischen NS-Verbrechen und SED-Unrecht herausstellte. Einzig positiver Lichtblick ist die Aufnahme der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus. Alles andere zeigt eine deutliche Schieflage zu Lasten der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen. Die geschichtspolitische Akzentverschiebung zeigt sich auch in der Verwendung nationalkonservativer Begrifflichkeiten wie „Leitkultur“, „Identität“, „Nation“, „Bräuche“ und Traditionen.
AfD: Völkisch-nationalistisches Geschichtsverständnis im Schafspelz
Letzteres eint das Programm von CDU/CSU mit dem Programmentwurf der AfD. Das Kapitel zur Erinnerungskultur trägt die Überschrift „Brauchtum und Gedenken“. Darin machen die extrem Rechten – wenig überraschend – keinen Hehl daraus, dass ihnen die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen ein Dorn im Auge ist: Die Erinnerungskultur dürfe nicht nur die Tiefpunkte der Geschichte im Blick haben. Der kritische Blick auf die Geschichte des Nationalsozialismus und des Kolonialismus, von der AfD als „ideologisch geprägt“ und „moralisierend“ bezeichnet, bedeute die „Demontage unserer historisch-kulturellen Identität“. In dieselbe Kerbe haut eine geschichtsrevisionistische Passage, die dem Wahlprogramm auf dem Parteitag am vergangenen Wochenende hinzugefügt wurde und das Kaiserreich von 1871 bis 1918 rehabilitieren soll. Ideologische sowie politik- und gesellschaftsgeschichtliche Verbindungslinien zum Nationalsozialismus, man denke an die autoritäre Prägung oder auch die Genese von Nationalismus, Militarismus, Antisemitismus und völkischem Denken im Kaiserreich, werden expliziert negiert. Die negative Beurteilung des Kaiserreichs richte sich gegen die „deutsche Nation an sich“. Ein „Volk ohne Nationalbewusstsein“, heißt es im Programm, könne „auf Dauer nicht bestehen“: Das alles entspricht der geschichtsrevisionistischen Ideologie der Neuen Rechten. Deren Vordenker Armin Mohler bezeichnete den kritischen Blick auf die NS-Verbrechen bereits ein den 1960er Jahren als „Nationalmasochismus“. Dieser Begriff wird immer wieder von den von Björn Höcke und anderen AfD-Funktionär:innen hofierten Ideologen um Götz Kubitscheks „Institut für Sozialpolitik“ in Schnellroda aufgewärmt. Mit dem „Schuldkult“ hat er eine propagandistische Variante.
Dem wird im Programmentwurf positives „Brauchtum“ entgegengestellt, das „identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend“ sei. Hier zeigt die AfD, wie sie geschichtspolitisch tickt. Die abschließende Zustandsbeschreibung der „auskömmlichen Finanzierung der Gedenkstätten“ lässt sich hingegen unter dem Stichwort Selbstverharmlosung zusammenfassen. Insgesamt zeigt der Programmentwurf ein völkisches, nationalistisches Geschichtsverständnis, das allerdings zurückhaltender formuliert ist als in den einschlägigen Reden Höckes, Gaulands, Krahs und vieler anderer AfD-Politiker:innen.
Erinnerungskultur im Wahlprogramm – Fazit
Der Blick in die Wahlprogramme zeigt sehr unterschiedliche Positionierungen. SPD und Grüne messen der kritischen, auf Reflexion und Stärkung von Geschichtsbewusstsein ausgerichteten Erinnerungskultur einen recht großen Wert bei. Im FDP-Programm spielt die Erinnerungskultur nur eine kleine, beim BSW gar keine Rolle. Im Programm der Linken wiederum klingen die Passagen zur Erinnerungskultur nach AgitProp und deuten auf wenig Verständnis für eine auf historisches Lernen ausgerichtete Gedenkstättenarbeit hin.
Zweifellos am problematischsten sind die geschichtspolitischen Passagen in den Programmen von CDU/CSU und AfD. Bei letzterer überrascht das nicht. Aus ihren Reihen werden notorisch geschichtsrevisionistische und holocaustverharmlosende Positionen verbreitet. Die Ausführungen im CSU/CDU-Wahlprogramm hingegen widersprechen der bisherigen Praxis der beiden Parteien, die die Arbeit der Gedenkstätten für NS-Opfer in den letzten Jahrzehnten immer deutlich unterstützt haben.
Die CDU-Politikerin Monika Grütters etwa hat sich in ihrer gesamten Amtszeit als Bundesbeauftragte für Kultur und Medien von 2013 bis 2021 für den Ausbau der Gedenkstätten in Deutschland und für innovative Bildungsformate eingesetzt und keinen Zweifel daran gelassen, dass für sie die kritische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen deutliche Priorität gegenüber dem Blick auf andere Epochen hat. Auch in den Ländern haben die Gedenkstätten mit CDU- bzw. CSU-Regierungen in den letzten Jahren eher positive Erfahrungen gemacht. Davon ist im aktuellen Wahlprogramm von CDU/CSU kaum noch etwas zu sehen. Stattdessen offenbart es einen drastischen geschichtspolitischen Rechtsruck. Für die liberale Demokratie in Deutschland bedeutet das nichts Gutes.
Zum Autor
Jens-Christian Wagner ist Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Bluesky, Twitter). Er forscht zur Geschichte des Nationalsozialismus sowie zu Erinnerungskulturen nach 1945 und ist Kurator und Autor zahlreicher Ausstellungen und Publikationen zu diesen Themen.
Ihr könnt ihm auf Bluesky und Twitter folgen. Hier geht es zur Website der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Auch diese findet ihr auf Bluesky und Twitter.
Artikelbild: Bodo Schackow/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
The post Parteien-Check Erinnerungskultur: Echtes Anliegen oder nur Lippenbekenntnisse? appeared first on Volksverpetzer.