Erst Amazon, dann Aldi: Ist das der Anfang vom Ende für Shop & Go?
Auf Kassenlos-Revolution folgt Kassenlos-Resignation: Aldi Nord hat angekündigt, seinen Markt mit automatisierter Einkaufserfassung in Utrecht zu schließen, lässt sich damit viel Zeit – und begründet es völlig anders als Amazon seinen Technologie-Rückzieher bei „Just Walk Out“. Was steckt hinter der Entscheidung? Der Beitrag Erst Amazon, dann Aldi: Ist das der Anfang vom Ende für Shop & Go? erschien zuerst auf Supermarktblog.
Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, insbesondere im sonst nicht übermäßig innovationsverliebten Lebensmittel-Discount. „Die Magie im Discount liegt in der Einfachheit“, schwärme Sinanudin Omerhodzic, Chief Technology Officer bei Aldi Nord vor zweieinhalb Jahren, als die Handelskette ein „besonderes Innovationsprojekt in den Niederlanden“ an den Start brachte: die erste kassenlose Aldi-Nord-Filiale in bester Innenstadtlage von Utrecht.
„Wir setzen Technologien deshalb immer da ein, wo sie uns gezielt besser und schneller machen“, hieß es damals. Doch schon nach kurzer Zeit stellte sich das in diesem Fall als Irrtum heraus. Und Aldi sah sich – wie so viele Anbieter von Testmärkten mit Kamera- und Sensorenerkennung – zum Nachjustieren gezwungen (siehe Supermarktblog und Supermarktblog).
Bereits im vergangenen Jahr entschied das Aldi-Management: Der erste Aldi Shop & Go in Utrecht wird wieder geschlossen. Obwohl Aldi (deswegen) nicht mehr bereit scheint, unnötige Ressourcen in den Standort zu investieren, ist der Laden bislang weiter geöffnet. Die Öffnungszeiten wurden morgens und abends um zwei Stunden gekürzt, sodass laut Google Maps derzeit noch von 10 bis 18 Uhr geöffnet ist.
Wir lassen noch ein bisschen offen
Auf Supermarktblog-Anfrage erklärt ein Sprecher von Aldi Niederlande:
„Der Test in Utrecht war von Anfang an als laborähnlicher, sehr kleiner Verkaufsraum gedacht, der nicht dem Standard eines ALDI-Marktes entspricht. Das bedeutet zum Beispiel ein deutlich reduziertes Produktsortiment und eine kleinere Auswahl an Non-Food-Produkten. In den vergangenen drei Jahren haben wir hier viel gelernt.“
(Was genau, kommuniziert man nicht.) Zum exakten Zeitpunkt der Schließung gibt man sich nach wie vor bedeckt:
„Wann genau der Markt in Utrecht schließen wird, ist noch nicht entschieden. Nach Ende des Tests werden wir den Markt nicht weiterbetreiben. Das war von Anfang an unsere Absicht.“
Bemerkenswert ist vor allem, dass es bei Aldi Shop & Go nach Erfahrungsberichten von Kund:innen schon seit mehreren Monaten nicht mehr so recht rund läuft.
Such den Pfandbetrag
Bereits im vergangenen Sommer, also noch vor Ankündigung der Schließung, registrierte Supermarktblog-Leser Marcel zunehmend leere Regale und hatte den Eindruck, neue Ware würde „kaum noch aufgefüllt“. Und weiter:
„Als ich Pfand abgegeben habe, kam das System damit auch nicht zurecht und übertrug den Betrag nicht an die Kasse. Das Personal darf/kann [an der Bezahlstation] offenbar keine Beträge manuell ändern, sodass die Verkäuferin dann Produkte aus dem ganzen Laden suchte, die insgesamt genau den Betrag meines Einkaufs abzüglich des Pfandbetrags ergaben. Es erscheint skurril, dass dies nach so langer Zeit die offenbar normale Herangehensweise ist.“
Auch im Netz melden sich Nutzer:innen zu Wort, die von gestörten Prozessen berichten. Im Dezember berichtete ein Kunde, dass bei stichprobenartigen Kontrollen an den zwischenzeitlich installierten Check-out-Säulen einfach keine Mitarbeiter:innen mehr erscheinen.
Hallo, hallo, ist da wer?
Als Kund:in müsse man dann warten, bis das System registriert, dass es zu lange dauert – und einen trotzdem bezahlen lässt. Es gebe auch keine Schaltfläche, um Mitarbeiter:innen zu benachrichtigen. Bei Problemen und Fehlern (wenn etwa keine Quittung ausgestellt werde, die für den Auslass benötigt wird), lasse sich keine Hilfe anfordern – es sei denn, jemand sei zufällig in der Nähe.
Das klingt, als hätte Aldi seinen Testmarkt längst abgeschrieben – allerdings ohne ihn auch abzuschließen.
Oder, anders gesagt: Aldi betreibt in Utrecht weiterhin einen supermodernen Laden, ohne darin ernsthaft noch irgendwas testen zu wollen – außer vielleicht: wie nachhaltig sich Kund:innen mit völlig vermurksten Abläufen abschrecken lassen.
Test in kleinerem Rahmen
Der Aldi-Niederlande-Sprecher erklärt gegenüber Supermarktblog.com, man wolle an einzelnen Shop-&-Go-Elementen festhalten:
„Für die nächste Phase haben wir unsere Erkenntnisse aus diesem Technologie-Test bereits in einen bestehenden Standardmarkt in Eindhoven integriert. Dazu gehören Technologien wie Kameratechnik für Checkout-Lösungen. Hier testen wir, wie wir die Technologie mit unseren Discount-Prozessen verbinden und weiterentwickeln können. Im Gegensatz zu Utrecht ist der Markt in Eindhoven für uns kein Labor mehr, sondern ein Test in einem regulären ALDI-Markt unter realen Bedingungen mit vollständigem Sortiment.“
Aber eben – wie die Formulierung nahelegt – nicht mehr kassenlos. Auch von der „strategischen Kooperation“, die man einst mit dem Technologie-Anbieter Trigo schloss, um die „automatisierte Erfassung von Einkäufen unter realen Bedingungen“ zu erproben, ist nicht mehr explizit die Rede.
Während es nachvollziehbar ist, dass Aldi Technologie in einem Marktumfeld fortführen will, das eher dem Standard des Unternehmens entspricht, wirkt die ursprüngliche Begründung für das Scheitern in Utrecht – interessant. Der Laden dort sei schlicht zu klein für das Experiment gewesen, hieß es gegenüber Journalist:innen im September.
Die merkwürdige „Zu klein“-Ausrede
Diese Argumentation läuft dem Trend entgegen, dass insbesondere kleine Convenience-Formate in zahlreichen Märkten (u.a. USA, Polen) als ideale Testfelder für die kassenlose Technologie gelten. Zum anderen widerspricht sie den Erfahrungen anderer Händler.
Branchenpionier Amazon etwa hatte im Frühjahr 2024 angekündigt, seine „Just Walk Out“-Technologie aus den größeren Fresh-Supermärkten in den USA wieder zu entfernen, um sie nur noch in kleineren Convenience Stores einzusetzen (Fresh UK, Amazon Go). Auch die Lizenzvergabe der Technologie konzentriert sich auf Betreiber kleinerer Shops, etwa an Flughäfen.
In Deutschland setzt die Rewe-Tochter Lekkerland bei ihrer Smart-Store-Initiative ebenfalls gezielt auf Convenience: Die kassenlosen Läden sollen vor allem das Tankstellen- und Bahnhofsgeschäft stärken.
Währenddessen bringt Rewe sein Format Pick & Go hierzulande zunehmend in größere Supermärkte, die allerdings von vornherein als Hybridformate (mit klassischer Bedienkasse als Alternative) konzipiert sind. Netto (ohne Hund) testet in Regensburg Pick & Go, allerdings wieder mit Pflicht-Checkout. Für den Einkaufsalltag sind die Systeme bislang aber immer noch nicht ausgefeilt genug (siehe Supermarktblog).
Korrektur überzogener Erwartungen
Was also steckt hinter Aldis überraschender Kehrtwende? Die Vermutung liegt nahe, dass weniger die Ladengröße das Problem ist, sondern vielmehr die hohen Kosten der Technologie in Relation zum erzielbaren Nutzen.
Zudem offenbaren die Erfahrungen aus Utrecht auch die technischen Grenzen der aktuellen Systeme: Wenn selbst simple Prozesse wie die Pfandrückgabe nach zwei Jahren Testbetrieb nicht reibungslos funktionieren, wie soll das in einem regulären Markt inklusive wechselndem Nonfood-Angebot gelingen? Die Herausforderungen werden mit der Größe des Ladens und der Komplexität des Sortiments exponentiell größer.
Der Rückzug von Aldi und Amazon aus bisherigen Kassenlos-Experimenten könnte daher weniger das Ende des KI-unterstützen Einkaufs an sich markieren – sondern vielmehr eine notwendige Korrektur überzogener Erwartungen sein.
Eine wichtige Lektion
Denn die Grundidee bleibt relevant: Gerade in Situationen, in denen Kund:innen schnell und unkompliziert wenige Artikel kaufen wollen, kann eine automatisierte Warenerfassung hilfreich sein – sofern die Rahmenbedingungen für die Nutzer:innen stimmen. Die Kosten bleiben überschaubar, die technischen Herausforderungen beherrschbar.
Womöglich wird Aldis „Zombie-Store“ in Utrecht als Symbol für die Kinderkrankheiten des kassenlosen Einkaufens in die Handelsgeschichte eingehen: zu kompliziert, zu teuer, zu wenig aus der Perspektive der Kund:innen gedacht.
Aber auch: als wichtige Lektion für die nächste Generation dieser Systeme.
Herzlichen Dank an Marcel!