Da tut sich was in der Filmbranche: So sieht weibliche Lust jenseits der 50 aus
Alle reden gerade über Nicole Kidmans “Babygirl". Doch es ist nicht der einzige Film, der endlich zeigt, dass weibliche Lust nicht mit der Menopause endet
Alle reden gerade über Nicole Kidmans “Babygirl". Doch es ist nicht der einzige Film, der endlich zeigt, dass weibliche Lust nicht mit der Menopause endet
Ich bin etwas nervös, als ich um 16 Uhr den Kinosaal 7 betrete. Gleich zeigen sie “Babygirl“, das gehypte Erotikdrama mit Nicole Kidman. Darin lässt sich die 57-jährige Firmenchefin Romy auf eine Affäre mit ihrem deutlich jüngeren Praktikanten ein und stellt sich endlich ihren lang unterdrückten BDSM-Fantasien. Die Darstellung der vielen intensiven Orgasmen soll Nicole Kidman nach eigenen Aussagen gar an den Rand eines Burnouts getrieben haben. Es heißt: Selten zuvor sei weibliche Lust nach der Menopause so authentisch und ungeschönt auf der Kinoleinwand dargestellt worden.
Was ist ein “ugly orgasm“?
Das US-Onlinemagazin “Jezebel“ mutmaßte sogar, Kidman sei nur deshalb bei den diesjährigen Oscar-Nominierungen leer ausgegangen, weil die überwiegend männliche Jury der Academy Awards (67 Prozent) ein Problem mit ihren “ugly orgasms“, also hässlichen Orgasmen hätte. Diese sind schließlich das Gegenteil von dem, was die überwiegend männlichen Regisseure und Produzenten seit Jahrzehnten servieren: Zwei bildschöne, perfekt ausgeleuchtete, junge Menschen fallen übereinander her, zwei, drei kraftvolle Stöße seinerseits, süßlich-verzücktes Stöhnen ihrerseits und – bäng! – kommen beide gleichzeitig zum Höhepunkt. Sex, der die Egos der Männer streichelt, nicht die Klitoris.
Sie grunzt und prustet, der Porno läuft
“Babygirl“ geht gleich gut los: Nach dem unbefriedigenden Sex inklusive Fake-Orgasmus mit ihrem Ehemann schleicht Kidman ins Nebenzimmer, um zu einem Porno mit Unterwerfungsfantasien zu masturbieren. Zoom auf ihr Gesicht: Kidman ächzt, die Ader an ihrer Schläfe pulsiert. Dabei muss sie weder gut aussehen, noch das Ego des Mannes künstlich bestöhnen. Wenige Sekunden, dann ist sie fertig.
Wer sich das anguckt? Ein älteres Ehepaar, das seine Rollatoren in der letzten Reihe geparkt hat. Drei Teenagermädchen, die aufgeregt kichern. Einzelne Frauen und Männer in Kidmans Alter, bereit für cineastischen Aufklärungsunterricht: Wie sieht weibliches Begehren jenseits der 50 oder 60 aus? Was ist ein “ugly orgasm“? Welche unterdrückten sexuellen Fantasien schlummern in Frauen?
Unbeholfen und schüchtern gehen sie auf die Suche nach ihrem Begehren
Schnell zerstreut sich meine Befürchtung, es könnte zu explizit oder unangenehm in Kinosaal 7 werden. Vielmehr ist dieser Film herzerwärmend, lustig und beinahe rührend: Romy und ihr Praktikant sind maximal unbeholfen, wissen nicht so recht, wie sie das mit Dominanz und der Unterwerfung angehen sollen. Da wartet kein abgebrühter Christian Grey in seiner Luxus-Folterkammer. Da schlurft ein junger, kettenrauchender Typ in Nike-Jogginganzug und Döner in der Plastiktüte in ein schäbiges Hotelzimmer (angewidert zupft Kidman ein fremdes Haar vom Bettzeug) und kriegt erstmal einen Lachanfall, weil die Situation so absurd ist. Er versucht’s mit einem Klischee: “Geh auf die Knie, sofort!“ – und muss gleich wieder lachen.
Kidman ist derweil den Tränen nahe, weil sie auch nicht weiß, was sie eigentlich braucht. Er fleht sie an, es wenigstens zu versuchen, wo man schonmal hier sei. Irgendwann befriedigt er sie dann mit der Hand. Close-up auf Kidmans Gesicht: sie grunzt und wimmert, schwitzt, zittert und quakt. Vielleicht sabbert sie sogar. Wow. Als sie endlich kommt, möchte man fast applaudieren.
Schluss mit Stöhnen auf Kommando, Schluss mit Fake-Orgasmen. In den neuen Primetime-Produktionen geht es darum, authentisch die eigene Lust zu leben und zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen. Der männliche Co-Star spielt stark, trotzdem ist Harris Dickinson nie mehr als ein Vehikel. Nicoles Sextoy.
Anspruchsvolle Erotikfilme waren schonmal groß in Hollywood. In den 90ern sorgten “Basic Instict“, “Eine verhängnisvolle Affäre“ oder “9 ½ Wochen“ für Furore, aber kaum dass Gratis-Pornowebsites wie YouPorn das Licht der Welt erblickten, gab sich Hollywood irgendwie keine Mühe mehr und Filmsex verkam zur netten Zugabe oder zum stumpfen Gag – wie in "American Pie“ (1999), als der Hauptdarsteller Sex mit einem warmen Apfelkuchen hatte.
Schluss mit Fake-Orgasmen und künstlichem Stöhnen
Es folgten blutleere und unrealistische Hochglanz-Erotik-Produktionen wie "The Idol“ mit Lily Rose Depp, "365 Days“ oder "Fifty Shades of Grey“. Kein Wunder, dass 50 Prozent der Gen Z 2023 in einer Studie der University of California angaben, sie fänden Freundschaften in Filmen und Serien interessanter als sexuelle Beziehungen.
Vielen Filmemachern wurde, vor allem im Rahmen der #metoo-Bewegung, vorgeworfen, Frauen als Sexobjekte zu inszenieren und Sex- oder Nacktszenen bloß aus voyeuristischen Gründen einzubinden. Filme wie "Babygirl“ geben Frauen nun die Macht über ihr Begehren zurück und blicken mit einem weiblichen Blick auf Lust. Die Stars dieser Filme sind – Achtung! – "menopause whores“ – zu Deutsch: Menopausen-Huren, keine Beleidigung, sondern ein Kompliment aus der feministischen Szene – für Frauen jenseits der 50 oder 60, die selbstbewusst und ohne Rücksicht auf Verluste ihre Lust leben.
Nacktheit, Falten, Altersflecken – und Lust auf Sex
Eine weitere Vorreiterin ist die 67-jährige Monica Guerritore, Hauptdarstellerin in der italienischen Netflix-Serie "Betrügerische Liebe“, in der es ebenfalls um das Begehren einer reichen, alleinstehenden Frau geht, die eine Affäre mit einem halb so alten Mann beginnt. Obwohl sie weiß, dass er es auf ihr Geld abgesehen hat. Aber das ist ihr egal – weil sie den Sex genießt. Und diesen Sex sehen wir auch, inklusive Nacktheit, Falten, Altersflecken. Allem, was dazugehört.
Auf Instagram schrieb die Hauptdarstellerin: „Das ist es, was wir Schauspielerinnen wollen: Rollen, die unserem Alter entsprechen, das sich auch in unseren Gesichtern und Körpern widerspiegelt; die das Alter unseres Publikums spiegeln und neue Formen der Selbstliebe (…) zelebrieren. Wir sind hier, um Geschichten zu erzählen, die (…) von echten Menschen gelebt werden.“
Sogar die ARD macht mit
Auch in der schwedischen Netflix-Serie "Liebe und Anarchie“ sehen wir die Hauptdarstellerin – herrlich pragmatisch – beim Masturbieren im Bad, während sich ihre Kinder für die Schule fertig machen. Wir sehen, ein sexuelles Wesen, das sich das nimmt, was es braucht (um im Alltag die Nerven zu behalten).
Sogar die ARD hat plötzlich Bock: In „Bis zur Wahrheit“ masturbiert Maria Furtwängler im Familienurlaub, zwischen Wäsche einsortieren und kurz vor dem Ausflug.
So handhabt es auch Nicole Kidman in "Babygirl“, und ihre Orgasmen werden dabei nicht in einer idealisierten, glamourösen Weise gezeigt, sondern roh und ungeschönt. Statt Männerfantasien zu bedienen, in denen sich alles immer nur um den heiligen Gral a.k.a. Penis geht, sehen wir Sex und Begierde aus einer rein weiblichen Perspektive. Schnell wird klar: „Babygirl“ ist ein Film, den ich gerne schon mit 16 gesehen hätte.
Halina Reijn verantwortete Drehbuch und Regie, Kidman schwärmte: „Für mich ist es ein einzigartiges, neues Gefühl, komplett in den Händen einer Frau zu sein – absolut befreiend!“ Wenn sie schon keinen Oscar bekommt, verdient Nicole Kidman zumindest einen Preis dafür, den Blick auf die weibliche Lust gelenkt zu haben.