Handball-WM: Was der Handball vom Fußball lernen kann
Eh klar, was zur Handball-WM kommen muss: Was der Handball vom Fußball lernen kann.
In einer Minute Handball, schrieb Sophie Passmann 2019 in ihrer viel beachteten Kolumne im Zeit Magazin, passiere mehr Kluges als an einem ganzen Spieltag der Fußballbundesliga. Laut der Autorin sei Handball der wichtigste Sport der Welt, denn er mache charakterstark und außerdem könne man guten Gewissens Kniestrümpfe mit kurzen Hosen kombinieren. Daraus resultierte seinerzeit eine wochenlange Grundsatzdebatte, in der es um die Frage „Was kann der Fußball vom Handball lernen?“ ging. Doch schon im Ansatz hatte diese Debatte einen Denkfehler. Denn wer sich mit dem Fußball vergleicht, das weiß doch jeder, der hat von vornherein verloren.
Da der Fußballfan aber bekanntlich einer wohlwollende Sippschaft angehört, zeigt er dem Handballfan liebend gerne auf, was dieser vom schönsten Sport der Welt alles lernen kann. Am besten studiert ihr noch schnell die Handspielregeln, denn ab jetzt heißt es: Finger weg!
Die Schwuppdiwuppdizität des Spiels
Beginnen wir für alle Fachfremden mit dem Schlüssel zur Fußballwelt: der Sprache. Die um Längen schöner ist als die im Handball. Oder gibt es bei den prellenden Kreisläufern etwa kodierte Begriffe wie Blutgrätsche, Bananenflanke, Abstauber, Fliegenfänger und Catenaccio? Wohl kaum. Auch das Momentum wird ein Handballteam niemals auf seiner Seite haben, dafür sorgt allein die Willkür an Toren. Wie viele Tore fallen durchschnittlich in einem Handballspiel? 50? 60? Es wird mit ziemlicher Sicherheit noch nie ein nervenaufreibendes wie ernüchterndes 0:0 im Handball gegeben haben, keine bis zur Besinnungslosigkeit strapazierte Spannung, die sich erst in einem kollektiven Orgasmus löst, wenn der Ball die Torlinie überquert, keine Tribüne, die aufploppt wie eine geschüttelte Sektflasche. Im Handball vollzieht sich ein invariables und weit weniger emotionales Aktion-Reaktion-Schema, wenn zum x-ten Mal ein Tor geworfen wird. Mit Klatschpappen und Trillerpfeifen ausgestattete Fans lassen eine bis in die letzte Ritze mit Werbung zugekleisterte Kulisse kurzerhand wie auf einem Jubel-Stockfoto aussehen. Und haben sich bitte schnellstmöglich wieder hinzusetzen. Sie könnten ja ein Tor verpassen.
Klar: Der Handballfan beruft sich gerne auf die Schwuppdiwuppdizität des Spiels und tatsächlich geht es atemlos hin und her und eigentlich weiß keiner, wie es gerade steht und für was denn dieses Ergebnis, hat man es denn dann irgendwann einmal herausgefunden, eigentlich steht. Denn um über den Tellerrand blicken zu können, fehlt dem Handball ganz einfach die Zeit. Eine zweite Ebene besitzt dieser Sport nicht. Zwischen Torraum und Freiwurflinie gibt es gar keinen Interpretationsspielraum. Ganz anders im Fußball. Der in den zwei Stunden, die man vor Anpfiff schon im Block stehen muss, um nicht an den Tribünenrand gedrückt zu werden und zwischen uferlosen Pepschen Ballbesitzstafetten sowie ewig langen VAR-Unterbrechungen, genug Raum und Zeit lässt, über diesen Sport zu sinnieren. Er gewährt dem Fan in diesen Momenten einen Zugang zur eigenen Zweckhaftigkeit. Dem Handball fehlt ganz klar eine solche Form der Selbstreflexion.
Und was, wenn Frisch Auf Göppingen auf die HSG Wetzlar trifft?
Es braucht auch nicht alle zwei Jahre ein Großturnier, um überhaupt Aufmerksamkeit und Begeisterung für den Sport zu heucheln. Die Hingabe erwächst im Fußball ganz intrinsisch. Und sie bleibt. Zwar versucht ein beträchtlicher Teil von Fußballfans hartnäckig, sich bei den komischen Entwicklungen der letzten Jahre vom Sport abzuwenden, doch funktioniert das augenscheinlich nicht. Im Handball hingegen klappt das ausgesprochen gut. Steht eine Welt- oder Europameisterschaft ins Haus, trägt das halbe Land schlagartig Schland-Iro und Brandt-Schnäuzer. Gesprächsstoff auf Bürofluren sind überbezahlte Fußballstars und ehrliche Sportsmänner im Handball, das ganze Land führt Pro-Pro-Liste, was am Handball denn alles besser sei als am Volkssport Nummer eins.
Und dann, ja dann fliegt das deutsche Team gegen die Handballgroßmacht Mazedonien aus dem Turnier, die Daikin, früher LIQUI MOLY Handball-Bundesliga beginnt mit dem Auftaktspiel zwischen Frisch Auf Göppingen und der HSG Wetzlar, parallel dazu trifft der VfL Bochum im Trainingslager in Belek auf Frosinone Calcio. Und sagen wir mal so: Plötzlich ist es dann doch wieder etwas spannender, ob der vom FC Sochaux losgeeiste Linksaußen (letzte Saison: 24 Spiele, 8 Tore, 4 Vorlagen) der versprochene Königstransfer an der Castroper ist oder nicht. Oder nicht?
Ein vom FC Sochaux verpflichteter Linksaußen? Also ein französischstämmiger Mann, der im Ruhrgebiet Fuß fassen soll? Im Handball im Grunde gar nicht vorstellbar. Wo selbstverständlich statistisch sauber recherchiert wirklich jeder zweite Spieler Stefan heißt, dichten braunrötlichen Bart trägt, nebenher einhändig Rigipswände hochzieht und schon im Alter von zwei Jahren die Krokodilschaukel in der Kinderkrippe wieder zum Laufen gebracht hat, weil zuvor niemand auf die Idee gekommen ist, den Schneidkantenverschleiß zu kontrollieren und die Spindelkonus einfach mit dem Spindelrevolver nachzuschleifen. Will meinen: Zumindest die echten Kerle fehlen dem Handball nicht! Das Integrative hingegen schon. Anders als im Fußball, wo die deutsche Nationalmannschaft sich aus Spielern zusammensetzt, die Wurzeln in Sierra Leone, Rumänien oder Mecklenburg-Vorpommern haben und heute in London oder Barcelona die weite Welt erkunden, ergeben sich all die Stefans ihrem Schicksal in deutschen Provinzstädte wie Gummersbach, Flensburg und Mannheim.
Womit wir beim größten Problem dieses Sports wären: Der Handball produziert keinerlei Glamour. Den Kreisläufer von der SG Flensburg-Handewitt würde ja kein normaler Mensch im Alltag erkennen, sondern vielmehr blöd anpampen, wenn er sich morgens beim Bäcker den letzten Zimtwuppi krallt und in die Figur schiebt. Steht beim gleichen Bäcker allerdings ein Marco Reus, dann sei ihm absolute Ehrfurcht geboten und alles Glück der Welt vergönnt. Und komme es, wie es wolle, auch in Form eines Zimtwuppis. Denn mal im Ernst: Wer will ernsthaft nahbare und bodenständige Sportler sehen? Wir lieben doch unantastbare Schöngeister und einen entrückten Sport. Niemand braucht einen leicht untersetzt daherkommenden Stefan mit ungepflegtem Bart, der an das eigene Antlitz erinnert. Die Nation lechzt nach jungen, gewachsten Föhnfrisuren, gezupften Augenbrauen und Followerzahlen in Millionenhöhe. Die Unzugänglichkeit des Fußballs und seiner Protagonisten, so sehr wir häufig darüber schimpfen, macht den Sport insgeheim ja so groß, so mythenreich, so unantastbar. Der Fußball ist eine große Zirkusnummer, eine perfekte Inszenierung, Handball ist ein Laienschauspiel, krampfhaft inszeniert wie ein Unterrichtsbesuch in Sport während des Referendariats.
Der wichtigste Sport der Welt
So weit, so klar. Bricht man nun den Fußball auf seine kleinste Funktion herunter, kann der Handball auch dort etwas lernen. Denn ganz im Gegensatz zum Ballspiel bietet er noch nicht einmal ein gutes Icebreaker-Thema mit dem Schwiegervater. Oder hat jemals jemand schon mal den Gesprächsfetzen am Nebentisch aufgefasst, in dem ein junger Mann mit zittriger Stimme einem deutlich älteren ein „Was sagst du zu Neuzugang Stefan auf Linksaußen? Meinst du der kann den abgewanderten Stefan ersetzen oder wird Trainer Stefan vielleicht auch mal dem jungen Stefan aus der U23 eine Chance geben?“ entgegengebracht hat? Eben!