Was nutzt das schönste Wahlprogramm?

Gestern veröffentlichten die NachDenkSeiten eine Übersicht der Wahlprogramme der sechs „großen“ Parteien. Dazu erreichten uns einige kritische Leserzuschriften, die nicht den Artikel, sondern den Umstand, dass die Linkspartei in der Übersicht fehlte, kritisierten. Diese Kritik ist sicher nicht unberechtigt und wir haben bereits reagiert und die Positionen der Linkspartei ergänzt. Ich habe mir dasWeiterlesen

Jan 21, 2025 - 14:55
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Was nutzt das schönste Wahlprogramm?

Gestern veröffentlichten die NachDenkSeiten eine Übersicht der Wahlprogramme der sechs „großen“ Parteien. Dazu erreichten uns einige kritische Leserzuschriften, die nicht den Artikel, sondern den Umstand, dass die Linkspartei in der Übersicht fehlte, kritisierten. Diese Kritik ist sicher nicht unberechtigt und wir haben bereits reagiert und die Positionen der Linkspartei ergänzt. Ich habe mir das Wahlprogramm der Linkspartei anlässlich dieses Vorgangs genauer angeschaut und war zerrissen – einerseits stimme ich sehr vielen Punkten zu und es enthält einige wirklich gute Forderungen; andererseits gibt es wohl keine andere größere Partei, bei der zwischen den Forderungen im Wahlprogramm und der Chance auf deren Umsetzung ein derart großer Widerspruch besteht. Aber kann man das der Partei anlasten? Von Jens Berger.

Das Wahlprogramm der Linkspartei ist gewaltige 62 Seiten lang – DIN A4 im Hochformat, dicht bedruckt auf insgesamt 2.717 Zeilen. Das komplette Programm durchzulesen, ist also kein Vorhaben, das man so nebenbei erledigen kann. Ich habe es dennoch getan, werde mich aber bei der „Kurzanalyse“ auf die Politikfelder konzentrieren, die mich am meisten interessieren und auf denen ich es mir auch zutraue, inhaltlich Stellung zu beziehen. Dies sind die Finanz- und Wirtschaftspolitik. Das Programm, das den Untertitel „Reichtum teilen. Preise senken. Füreinander“ trägt, hat ohnehin seinen Schwerpunkt bei den sozioökonomischen Themen. Hier sieht die Linkspartei vollkommen zu Recht großen Handlungsbedarf und hat hier auch tatsächlich ein programmatisches Alleinstellungsmerkmal.

Für die Linkspartei ist klar: „Die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich ist eines der größten Probleme unserer Zeit“. Man versteht sich als Anwalt der „Kleinen“, der „an der Seite der Menschen [steht], bei denen das Geld kaum zum Leben reicht und derer, die keine Lobby haben“. Für die Linkspartei ist dies die „Mehrheit der Gesellschaft“, an „deren Prioritäten [sie] ihre Politik ausrichtet“. Und hier habe ich bereits die ersten Bauchschmerzen. Richtig ist, dass sich das Programm der Linkspartei vor allem für diejenigen einsetzt, die ökonomisch nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Auf der anderen Seite zieht sich durch das gesamte Programm eine mir zu populistische Schwarz-Weiß-Malerei, die Wohlhabende, die im Programm wahlweise „Reiche“ oder „Superreiche“ genannt werden, für so ziemlich jedes Problem verantwortlich machen. Hier wäre ein wenig mehr Differenzierung nötig. In Wahlkampf sind Zuspitzungen natürlich durchaus erwünscht, in einem eher trocken daherkommenden Wahlprogramm wirken sie jedoch oft eher holzschnittartig und könnten die vollkommen berechtigten Forderungen nach einer Umverteilung von oben nach unten womöglich gar diskreditieren.

Was fordert die Linkspartei eigentlich? Man hat zu Recht erkannt, dass es die sozioökonomischen Sorgen sind, die die Menschen verunsichern und vor allem in den letzten Jahren zu echten Nöten geführt haben. Zu nennen wären da die steigenden Wohn- und Energiekosten und das generell steigende Preisniveau. Die Linke will das Leben wieder bezahlbar machen. Das ist gut. Dafür schlägt sie eine ganze Reihe politischer Maßnahmen vor, die im Großen und Ganzen auch recht ordentlich fokussiert sind. So fordert man unter anderem zahlreiche Maßnahmen zur Eindämmung und teils sogar Rücknahme der steigenden Mietkosten. „Wohnen darf kein Luxus sein“, heißt es im Programm. Wer würde dem widersprechen? Die Linke fordert daher einen bundesweiten Mietendeckel, eine massive Stärkung des gemeinnützigen Wohnungsbaus und viele Maßnahmen im Detail, die es Vermietern schwerer machen, Mieten zu erhöhen.

Wäre ich Mieter in Berlin, würden mich diese Forderungen sicher ansprechen. Und hier sind wir bereits bei einem der Probleme, die ich persönlich mit dem Wahlprogramm der Linkspartei habe. Ich fühle mich nicht mitgenommen. Werden wir da ruhig mal konkret: Als Besitzer eines noch lange nicht abbezahlten kleinen Häuschens auf dem Lande merke ich die steigenden Wohnkosten auch – aber nicht in Form steigender Mieten, sondern in Form massiv gestiegener Energiepreise und die Prognose ist hier – Stichwort: Ausweitung des Emissionshandels auf den Verkehr- und Gebäudebereich ab 2027 – kohlrabenschwarz. Die Antworten der Linkspartei auf dieses vor allem „ländliche“ Problem sind jedoch wenig überzeugend. Man ist halt Anwalt der Mieter, Häuslebesitzer sind offenbar Bürgertum, für sie darf Wohnen ein Luxus sein.

Selbstverständlich sieht man auch bei der Linkspartei das Problem steigender Energiekosten und bietet auch zahlreiche Forderungen an, die in der Tat sinnvoll sind – nur eben vor allem für Mieter. So fordert die Linke „sozial gestaffelte Energiepreise“, bei denen es „preisgünstige Sockeltarife“ für den durchschnittlichen Energieverbrauch gibt. „Wer mehr verbraucht, zahlt mehr“, so heißt es im Wahlprogramm. Das klingt nur vordergründig sozial ausgewogen. Wer ist das denn, der auf dem Land bzw. in der Fläche in einem älteren Haus lebt, das nicht die höchsten Energieeffizienzklassen hat? Die Wohlhabenden sind das jedenfalls in der Regel nicht, deren Architektenhäuser in den besseren Vierteln sind meist sogar sehr energieeffizient. Oder um es mal zuzuspitzen: Energie zu sparen, muss man sich auch erst einmal leisten können. Hier bietet das Programm der Linkspartei leider nicht die nötige Differenzierung.

Vielleicht ist diese Kritik aber auch zu hart. Denn anderes als bei anderen Parteien – vor allem den Grünen – ist der erkennbare Wille der Linkspartei, auch bei den Energiekosten einen sozialen Ausgleich hinzubekommen, glaubhaft und authentisch. Auf deren Seite ist aber auch mehr und mehr erkenntlich, dass sich die Linkspartei aus der Fläche zurückzieht und ihre Programmatik auf die urbane Wählerklientel maßgeschneidert hat. Hier wäre ein Realitätscheck sicher hilfreich.

Durchdachter und deutlich aggressiver sind die Forderungen der Linkspartei bei der Steuerpolitik. Ohne viel Federlesen kriegt man im Programm hohe Prozentsätze nur so um die Ohren gehauen. Das fängt bei der Einkommensteuer an, die in Stufen auf 53% (ab 70.000 Euro zu versteuernden Einkommen für Singles), über 60% (ab 260.533 Euro Jahreseinkommen) bis zu 75% für Einkommensmillionäre reichen soll. Warum auch nicht? Die ungleiche Besteuerung von Kapital- und Arbeitseinkünften soll ersatzlos gestrichen werden. Auch das ist gut. Zum Ausgleich will man den Grundfreibetrag von derzeit 11.784 Euro auf 16.800 Euro pro Jahr erhöhen, wovon alle, aber vor allem niedrigere Einkommen profitieren. Diese Forderungen sind inhaltlich zwar sicher ambitioniert aber im Kern schon in Ordnung. Da kann man vielleicht darüber hinwegsehen, dass es auch Unsinn, wie eine „Obergrenze für Manager*innen- und Vorstandsgehälter“ wieder ins Wahlprogramm geschafft haben. Liebe Linkspartei, warum sollte man die Gehälter deckeln, wenn bei sehr hohen Gehältern ohnehin 75% der ausgeschütteten Summe wieder an den Fiskus zurückkehren? So einfach kriegt man das Geld der Konzerne sonst nicht ins Staatssäckel. Denkt mal drüber nach.

Sind die Forderungen bei der Einkommenssteuer ambitioniert, wirken die Forderungen bei der Vermögensbesteuerung sogar ein wenig überambitioniert. In einem Modell mit vielen Freibeträgen will man einen progressiven Vermögenssteuersatz, der von einem Prozent (ab einer Million Vermögen) bis zu zwölf Prozent (ab einer Milliarde Vermögen) reicht, einführen. „Es sollte keine Milliardäre“ geben, so das Programm. Zusätzlich fordert man daher eine einmalige Vermögensabgabe, die bis zu 30 Prozent des Vermögens gestaffelt auf bis zu 20 Jahre Zahlungshorizont umfassen soll. Finanziert werden soll damit die „soziale und ökologische Transformation der Gesellschaft“. Nun ja. Ich bin beileibe kein Gegner einer deutlich höheren Besteuerung von hohen Vermögen. Aber 30 Prozent Abgabe plus 12 Prozent jährliche Vermögenssteuer? Das klingt eher nach „Feindbildaufbau“ als nach einem durchdachten Konzept. Eine meines Erachtens klügere Alternative wäre die, die Gans, die goldene Eier legt, nicht zu schlachten, sondern ihr jeden Tag ein goldenes Ei wegzunehmen, also Vermögende dauerhaft über eine gut konstruierte Vermögenssteuer zur Finanzierung des Gemeinwohls heranzuziehen, aber die Basis dieser Finanzierungsgrundlage nicht über Gebühr zu schädigen. Aber das mag man bei der Linkspartei anders sehen.

Durchweg positiv zu bewerten sind beim steuerpolitischen Programm indes zwei Punkte: Zum einen will die Linkspartei endlich die Erbschaftssteuer in der Form reformieren, dass große Erbschaften de facto auch besteuert werden – und das nicht zu knapp –, und zum anderen hat man durchaus den internationalen Kontext im Auge und hat beispielsweise mit einer Quellensteuer im Blick, dass das Kapital ein flüchtiges Reh ist und sich gerne der Besteuerung durch Flucht entzieht. Hier punktet die Linkspartei und bietet gleich nebenbei auch noch sinnvolle Lösungen an, wie man internationale Konzerne dort besteuern kann, wo sie ihre Umsätze machen. Ob das alles mit europäischem und internationalen Recht kompatibel ist, ist eine andere Frage, die man aber ohnehin erst dann beantworten kann, wenn aus den guten programmatischen Forderungen konkrete Gesetzesvorhaben würden. Und hier ist der eigentliche Knackpunkt des Wahlprogramms zu verorten.

Die Chancen, dass die Linkspartei in den kommenden Bundestag einzieht, sind eher gering. Und selbst wenn sie es schaffen sollte, wird sie auf den Oppositionsbänken Platz nehmen. Sogar wenn man mal hypothetisch den Gedanken durchspielt, die Partei könnte an einer Regierung beteiligt zu sein, ist es doch auszuschließen, dass die ambitionierten Forderungen aus dem Wahlprogramm eine auch nur so kleine Chance auf eine Umsetzung haben. Warum sollte man sich also ernsthaft mit ihnen beschäftigen?

Diese Frage ist unfair und falsch. Warum sollte eine Oppositionspartei, die inhaltlich durchaus konträre Positionen zum politischen Mainstream hat, ihre eigenen Positionen beschneiden? Eine Forderung ist nicht deshalb schlechter, weil sie keine realistische Chance auf Umsetzung hat. Nehmen wir da ruhig ein inhaltlich anders gelagertes Beispiel: Die Linke fordert – man höre und staune – auch die Abschaffung der NATO und den Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsordnung, in der auch für Russland und die Türkei Platz ist. Das ist ja nicht deshalb falsch, weil die jetzigen und die kommenden Regierungsparteien das gänzlich anders sehen.

Politik lebt von Alternativen. Und auch wenn die Linkspartei wahrscheinlich nicht in den nächsten Bundestag einzieht und womöglich ohnehin schon bald als parlamentarische Partei Geschichte ist, lohnt es sich, ihre Forderungen wahrzunehmen. Um so trauriger stimmt es einen, dass die Partei sich selbst ohne erkennbare Not durch ihre kommunikative Fokussierung auf derzeit nicht mehr sonderlich populäre identitätspolitische Forderungen und durch fortwährende Grabenkämpfe und Intrigen selbst ins Abseits manövriert hat.

Titelbild: Lutsenko_Oleksandr/shutterstock.com

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